Mittwoch, September 27, 2017
Drei Tage vor der Bundestagswahl
ist diese Frage berechtigt. Sie richtet sich an alle Parteien, die Aussicht
haben, für die nächsten vier Jahre in den Bundestag zu kommen, nur nicht an die
AfD. Die ist nämlich der Schwarze Mann.
Die Zeit der lockeren Witze,
„AfD, die Alternative für Dumme“, ist vorbei. Alle Parteien haben Angst vor dem
„Schwarzen Mann“, und jede Partei hat ihre Gründe.
Die CDU rechnet damit, dass viele
ihrer Wählerschäfchen sich als schwarze Schafe herausstellen und sich unter die
AfD-Herde mischen und dort ihr Glück suchen. Ob sie es dort finden, sei
dahingestellt.
Die CSU fürchtet die Abwanderung
von Tiefschwarz zu noch tieferem Schwarz, weil sie ihre absolute Mehrheit bei
der nächsten Landtagswahl in Gefahr sieht.
Die SPD ängstigt sich davor, vom
Schwarzen Mann in die nächste Große Koalition geschubst, oder – noch schlimmer –
in die Opposition verbannt zu werden,
die ja, münteferingsch gesagt, Mist ist.
Und die lieben Kleinen – GRÜNE,
LINKE, FDP – haben sie auch Angst? Auf jeden Fall dann, wenn sie in der
Opposition landen. Dort sitzt nämlich der Schwarze Mann schon und wird den Ton
angeben.
Alle Parteien haben die AfD
vorsorglich in die Opposition geschickt. Das wird so gern vergessen. Der
Schwarze Mann hat sich in dieser Rolle längst komfortabel und mit Vergnügen
eingerichtet.
Egal wie die Wahl am 24.
September ausgeht: An diesem Sonntag ist
die Angst-partie vorbei. Alle sehen dann, was sie angerichtet haben und können dann
anfangen, ihre Sache besser zu machen als bisher. Das wird kein Kinderspiel
sein. 21. 09. 2017
Ende der Angstpartie,
oder…?
Wie ist‘s denn nun mit der Angst
vorm „Schwarzen Mann“? Vorbei? Oder fängt die Angstpartie jetzt erst richtig
an?
Der CDU – genauer der Union –
sind tatsächlich eine Million Schäfchen an den Schwarzen Mann verlorengegangen.
Und dann auch noch mehr als eine Million grasen jetzt bei der FDP.
Die CSU ist richtig abgestürzt,
bibbert jetzt noch mehr vor der Landtagswahl im kommenden Jahr. Ob Herr
Drehhofer, pardon, Herr Seehofer, mitgerissen wird, ist zwar nicht ausgemacht,
aber nicht ausgeschlossen.
Die SPD hat sich nicht in die
nächste GroKo schubsen lassen. Sie hat ihre Angst überwunden, ist zur Mutpartei
mutiert und geht in die Opposition.
DIE LINKE bleibt, wo sie war: in
der Opposition.
Den GRÜNEN und der FDP bleibt das
erspart. Sie müssen sich jetzt vor etwas ganz anderem fürchten: vor
Verantwortung.
Die Gespräche mit Frau Merkel
können heiter werden; denn Frau Merkel will weitermachen wie bisher – hat sie
gesagt, es sei ja auch alles bisher richtig gewesen. Ihre Gesprächspartner
wollen nicht alles, aber vieles anders machen.
Und dann der „Schwarze Mann“
selbst, die AfD. Mit 94 Abgeordneten wird sie sich in der Opposition
komfortabel einrichten. Die erste Geige wird sie allerdings nicht spielen. Da
ist die SPD davor.
Viel Unvernunft vor der Wahl.
Viel Unvernunft auch heute noch. Da müssen wir
Wähler tüchtig aufpassen. 27. 09. 2017
Sonntag, September 17, 2017
Autofahren ist tödlich
Seit einiger Zeit steht auf jeder
Zigarettenpackung „Rauchen ist tödlich“.
Das stimmt nicht, wie die Erfahrung zeigt. Rauchen kann tödlich sein,
muss es aber nicht.
Vielleicht hat der Gesetzgeber
deshalb darauf verzichtet, Autos mit dem Hinweis „Autofahren ist tödlich“ zu
versehen. Schließlich ist es wie beim Rauchen:
kann, aber muss nicht. Für 3.214 Autofahrer endete 2016 die Fahrt tödlich.
Schlimm genug, aber Millionen kamen wohlbehalten ans Ziel.
Politiker wären jetzt geneigt zu
sagen: Jeder tödliche Unfall ist einer zu viel. Verzichten wir auf diese
Floskel. Die Automobilhersteller haben das schon immer gewusst. Es ist
sicherlich nicht übertrieben zu sagen, dass Autos immer sicherer geworden sind.
Gegen leichtfertige, leichtsinnige, verantwortungslose Autofahrer sind die
Hersteller natürlich machtlos. Das ist ein etwas anderes Thema, auf das aber
noch einmal zurückzukommen ist.
Fest steht: Die Autos heute sind
sicherer als die von gestern, von vorgestern ganz zu schweigen, und die
Hersteller arbeiten daran, hier immer noch besser zu werden. Allerdings dürfte
es höchste Zeit sein zu fragen, ob sie sich nicht verzetteln und mit ihrem
Streben nach immer mehr Sicherheit sogar das Gegenteil erreichen.
Kleines Beispiel: der
Totwinkelwarner. Wenn von hinten jemand angerauscht kommt und sich im
sogenannten Totwinkel befindet, also im Rückspiegel nicht zu sehen ist, macht
das System akustisch und optisch darauf aufmerksam. Klingt nach Sicherheit und
sieht nach Fortschritt aus. Stimmt, wenn überhaupt, nur bedingt. Die Versuchung
ist groß, auf den so wichtigen Blick in den Rückspiegel zu verzichten. Dabei
ist eine Erkenntnis sicher: Wer zwischendurch immer wieder zurückblickt, kommt sicherer voran.
Spurwechsel- Spurhalteassistent.
Warum an „keep your lane“ denken, wenn das Auto einem das abnimmt?
Abstandswarner. Warum auf den sicheren Abstand zum Vorausfahrenden achten, wenn
das Auto es ganz allein macht? Verkehrs-zeichenerkennung – Vorfahrt,
Geschwindigkeitsbegrenzung, Halteverbot? Dele-giert ans Auto? Hat sich da nicht jemand vor Kurzem in
Amerika buchstäblich um seinen Kopf gefahren, weil das System ein
Verkehrsschild mit einem kreuzenden LKW verwechselte?
Es gibt viele andere Beispiele.
Die meisten zeigen, dass falsch verstandenes Sicherheitsstreben der Hersteller
zur Entmündigung des Autofahrers führen, zu mehr Gleichgültigkeit, Leichtsinn
und - Bequemlichkeit.
Mit der Bequemlichkeit
beschäftigen sich andere Bereiche der Hersteller. Über die Autos, die sich ihren Platz im Parkhaus selbst
suchen, die Autos, die erkennen, ob sie in eine Parklücke hineinpassen, und
wenn ja, vorwärts oder rückwärts zentimetergenau einparken, sind sie längst hinaus.
Sie sind dabei, uns wie die Kinder
zu behandeln, nein, eigentlich wie Demente, die nichts mehr auf die Reihe
bringen. Sie arbeiten am Auto, das unseren Kalender kennt, selbständig die
beste Route zu den einzelnen Terminen ausfindig macht, uns beim Stau früher
weckt und sich vielleicht sogar mit Lieferdiensten abspricht, die uns unterwegs noch die letzten
Einkäufe ins Auto reichen.
Audi-Anzeige in DIE ZEIT, 14. 09:
„Der neue Audi A8 ist mehr. Mehr
Büro. Mehr Lounge. Mehr Konzertsaal.“
(Frage: Aber doch nicht etwa
weniger Auto?)
Audi-Anzeige im SPIEGEL vom 16.
09:
„Sie glauben nicht an höhere
Intelligenz? Denken Sie nicht an ein Auto. Denken Sie in A8. – Der neue Audi A8
. – Ob Sie an sie glauben oder nicht – im neuen Audi A8 werden Sie sie erleben.
Seine künstliche Intelligenz lässt sogar die eleganten OLED-Heckleuchten*
mitdenken: Sie aktivieren automatisch die Nebelschlussleuchten und dimmen an
den Ampeln das Licht, damit andere nicht geblendet werden. Beim Öffnen des Audi A8 werden Sie
von einer Licht-inszenierung* begrüßt, die sich im Innenraum fortsetzt. Beim
Aussteigen weisen Ihnen die präzisen Scheinwerfer den Weg zur Haustür. Kaum zu
glauben, aber wahr. – Audi Vorsprung
durch Technik. *Optionale Ausstattung.“
(Eine Frage von vielen: Welche
Haustür? Etwa nicht nur die eigene?)
Anscheinend noch nicht gelöst
sind so kleine Probleme wie Datenschutz und Datensicherheit. Horrorvorstellung:
Auf Knopfdruck eines Cyber-Angreifers machen
zig Autos auf der Autobahn eine 90-Grad-Rechtskurve.
Entmündigung des Autofahrers? Daran
wird gearbeitet. Konsequent wäre es, den Führerschein abzuschaffen. Der Kauf
eines Autos schließt die Lizenz zum Töten –pardon – zum Fahren – ein.
Samstag, September 16, 2017
Nachrichten aus einer anderen Welt
„Erkennen Sie die Zukunft, wenn sie vorfährt?“
fragt Audi und gibt darauf auf drei
Seiten überraschende Antworten.
Seite 1:
„Willkommen in der Digital First
Class.
Wer so gut wie alles hat, hat von
einem meist zu wenig: Zeit. Die Digitalisierung im neuen Audi A8 schafft Ihnen
neue Freiräume. Mit der Ausstattung eines modernen Büros und dem Komfort einer
exklusiven Lounge. Lehnen Sie sich bei einer Massage zurück und genießen Sie
wahlweise die absolute Stille hinter den Dämmglasscheiben* oder die 1.920 Watt
des Bang & Olufsen Sound Systems mit hochauflösendem 3D-Klang*. Sind Sie
bereit zum Priority Boarding? Dann erleben Sie den neuen Audi A8 als einer der
Ersten auf der IAA. – Audi Vorsprung durch Technik.
*Optionale Ausstattung“
Seite 2:
„Machen Sie Ihre IT-Abteilung
neidisch.
Endlich gibt es die Technik, die sich ganz von selbst
erklärt. Zumindest im neuen Audi A8. Sein intelligentes Bedienkonzept macht
Knöpfe weitgehend überflüssig und überzeugt durch innovative
Touch Displays mit sensitivem Feedback. Die herausnehmbare
Rear-Seat-Remote-Bedieneinheit* lässt Sie auch auf den Premiumsitzen im Fond*
des Audi A8 sämtliche Komfort- und Entertainmentfunktionen bequem bedienen. Und
das alles so intuitiv dass Sie kein Manual benötigen. Geschweige denn, einen
IT-Experten. – Audi Vorsprung durch
Technik.
*Optionale Ausstattung“
Seite 3:
„Denken Sie nicht an ein Auto.
Denken Sie in A8.
Fortschritt erfordert neues Denken.
Vergessen Sie deshalb alles, was Sie über Autos wissen. Und denken Sie neu:
innovativer, komfortabler, intelligenter. Der neue Audi A8 ist mehr. Mehr Büro.
Mehr Lounge. Mehr Konzertsaal. Mehr Chatroom. Und damit mehr persönlicher
Freiraum. Vergessen Sie den Status quo. Denken Sie in neuen Ansprüchen. Denken
Sie in A8. – Audi Vorsprung durch Technik.
(Audi-Anzeige in der
Hamburg-Ausgabe der ZEIT vom 14. September 2017.)
Ein automobiler Albtraum
Dieses Hohe Lied der automobilen
Gebrauchslyrik verdient es, besonders gewürdigt zu werden – Satz für Satz und
gelegentlich auch Wort für Wort. Nur so lässt sich eine Welt entschlüsseln, die
mehr einem Albtraum gleicht als irgendetwas anderem. Gott schütze nicht nur die
Königin, sondern auch uns!
„Willkommen in der Digital First
Class.“ – Die Einladung gilt offensichtlich den Menschen, die zu wenig
Zeit haben, irgendwelche Freiräume vermissen und ohne rollendes Büro (Office!)
mit exklusiver Lounge und Massagesalon nicht zurechtkommen. Irgendetwas scheint
ihnen immer zu fehlen, ganz besonders eben Zeit. Dabei hat der Tag doch auch
für sie 24 Stunden. Vielleicht können sie sich ihre Zeit nicht richtig
einteilen. Ob ein Auto da wirklich hilft? „Bereit
zum Priority Boarding?“ Antwort: Danke nein, lieber nicht.
„Endlich gibt es die Technik, die
sich ganz von selbst erklärt. Zumindest im neuen A8.“ Ach ja? Endlich?
Zugegeben, es ist schon ziemlich lange her, da setzte man sich in Auto, rückte
den Fahrersitz zurecht, stellte die Rückspiegel ein – alles mit der Hand – und
fand sich sofort zurecht, sogar ohne Führerschein: Knüppelschaltung,
Lenkradschaltung, Zündschloss, Gas- und Bremspedal, Hand-bremse, Lichtschalter,
Winker oder Blinker – alles und jedes ein klarer Fall. Das war so, auch wenn
wir es noch nicht intuitiv nannten. Entsprechend dünn waren die
Betriebsanleitungen. Sie gaben Auskunft über Ölwechsel- und Inspektions-zeiten,
über Radwechsel und das Auswechseln von Glühbirnen und so. Das mit den Manuals
kam später, als sich niemand mehr in seinem Auto zurechtfand und man selbst
kaum noch etwas tun konnte.
„Fortschritt erfordert neues
Denken. Denken Sie in A8.“ Das ist eine ziemlich komische Art zu
denken, weil dazu auch das komfortable Denken gehört, so die Empfehlung. Denken im Lounge-chair, im
Schlaf oder so? Das führt dann zu mehr Büro, mehr Lounge, mehr Konzertsaal,
mehr Chatroom, mehr persönlichem Freiraum (was immer das sein soll)? Wohl kaum, und zu mehr Zeit auch nicht.
Wenn schon in neuen Ansprüchen
gedacht werden soll, dann vielleicht mit der Forderung: make it simple, mach es
einfach.
Mittwoch, September 06, 2017
Zur Feier des Tages
Auf den ersten Blick haben
Feiertage und Gedenktage nichts miteinander zu tun. Dazu sind sie zu
unterschiedlich. Wir feiern Erfolge, glückliche Augenblicke und gedenken der
Ereignisse, die uns schmerzen, die wir nicht selten am liebsten vergessen
würden. Und doch gibt es Gemeinsamkeiten. Sehen wir uns die Sache doch einmal
in Ruhe an.
Beginnen wir mit dem 9. November.
Kein Tag wie jeder andere. Im Gegenteil: ein deutscher Schicksalstag. 1918: der
Krieg ist verloren. 1923: Der Hitlerputsch, „Marsch zur Feldherrnhalle“. Der
Marsch in die Diktatur nur verschoben.1938: Die „Reichskristallnacht“. Jüdische
Bürger werden umgebracht, ihre Gotteshäuser, die Synagogen, niedergebrannt. Aus
Niedertracht und Menschenver-achtung auf dem Weg zum millionenfachen Mord. Und
dann der 9. November 1989: Die Mauer fällt. Zwei Deutschland auf dem Weg zu wieder
einem Deutschland.
Drei Katastrophen, ein
glückliches Ereignis. Ein Tag zum Feiern, ein Tag zum Gedenken? Der 9. November ist beides. Sollten wir ihn
feiern, dann dürften wir die dunklen Tage nicht vergessen. Aber wir behandeln
diesen Tag wie jeden x-beliebigen, wir beachten ihn nicht, haben ihn nicht auf
der Rechnung.
Stellvertretend für diesen
gedenkens- und feierwürdigen Tag verordnet die Politik uns den 3. Oktober als
nationalen Feiertag, als Tag der deutschen Einheit. Das Verdienst der Politik soll hier nicht
beiseite gewischt werden. Sie hat legalisiert, was das Volk erreicht hatte: die
Einheit. Das ist aber auch alles.
Berechtigt das die Politik, sich
sozusagen ins gemachte Bett zu legen und aus dem 9. November einen 3. Oktober
zu machen? Nein. Kein Wunder also, dass
dieser verordnete Feiertag nichts anderes geworden ist als ein freier Tag:
statt Gedenk- und Feiertag ein Currywursttag.
Eins zu null für den 9. November,
klarer Fall. Aber war da nicht noch etwas? Doch. Da war der 9. Oktober.
Wäre am 9. November die Mauer
gefallen ohne diesen neunten Tag im Oktober, ohne die 70.000 Leipziger Bürger,
die friedlich, aber unnachgiebig durch ihre Stadt zogen und ihre Freiheit verlangten?
Ohne die Nikolaikirche und die Pastoren Führer und Schorlemmer und andere
namenlose Bürger? Nein.
Neun Gründe führten die beiden
Pastoren in einem Aufruf für den 9. Oktober an und fassten zusammen: „Lassen
sie uns im glücklich vereinigten Deutschland nicht den Staatsakt vor dem
Brandenburger Tor, sondern die gewaltlose Volkser-hebung der Menschen auf den
Straßen des Landes feiern. Was im Osten geschah und geschieht, geht uns alle
an. Schließlich ist der 9. November nicht ohne den 9. Oktober denkbar.“
So wäre der 9. Oktober der ideale
Nationalfeiertag, unbelastet von den dunklen Seiten des 9. November? Ja. Aber
die eine wie die andere Möglichkeit blieb ungenutzt. Trotzdem: Vergessen wir
diese Tage nicht – die vier des 9. November und den einen, den 9. Oktober.
Nehmen wir die Erinnerung an
diese Tage als Ansporn, uns immer, jeden Tag, für eins einzusetzen: „Die Würde
des Menschen ist unantastbar.“ Das darf uns niemand aus der Hand schlagen,
keine Diktatur der Welt.
Grenzenloses Europa - ein Fortschritt?
Die Politik feiert als
Fortschritt, dass die Grenzen der einzelnen europäischen Länder nur noch auf
dem Papier stehen, und wir Bürger genießen den Vorzug, von Land zu Land zu Land
reisen zu können, ohne unseren Pass vorzeigen zu müssen.
Aber warum sprechen wir von
Fortschritt, wenn wir diese Freiheit doch schon vor Jahrzehnten hatten? Erich
Loest entdeckte – es ist einige Jahre her – an der Autobahnbaustelle
Dresden/Prag folgenden Text:
„Vor dem ersten Weltkrieg, als
niemand an den europäischen Grenzen Pässe brauchte, fuhr das deutschsprachige
Prager Bürgertum – viele Juden darunter – im Luxuszug nach Dresden zum
Opernbesuch. Auf der Hinfahrt wurde gespeist, auf der Rückfahrt getanzt. Mit
dem Gegenzug strebten Dresdner nach Prag in Theater.“
So ist, was heute Fortschritt
genannt wird, eigentlich eine Rückkehr zu den Wurzeln. Das allerdings soll
unsere Freude an wiedergewonnener Freiheit nicht mindern.
Einerseits und andererseits und außerdem
Der Zufall beherrscht unser Leben
und gehorcht trotzdem bestimmten Gesetzen. Manche davon sind ganz einfach. Auf
jeden Fall sieht das so aus. Ob das auch stimmt?
Welche Münze wir auch in die Hand
nehmen – sie hat zwei Seiten. Auf der einen Seite Kopf, auf der anderen Seite
Zahl. Selbst wenn sie anders geprägt sein sollten – es bleibt bei zwei Seiten.
Das ist so eine Art Gesetzmäßigkeit.
Und richtig: Kopf oder Zahl,
links oder rechts, oben oder unten, schwarz oder weiß, richtig oder falsch… die
einseitige Zweiseitigkeit der Münze verführt dazu, immer nur zwei Möglichkeiten
zu sehen – wenn überhaupt. Es gibt ja auch noch die Alternativlosigkeit, die
gern ins Feld geführt wird, wenn man gar nicht mehr weiter weiß. Aber das ist
ein anderes Thema.
Bleiben wir bei der der
Zweiseitigkeit der Münze, bei den beiden Seiten der Medaille, wie es so schön
heißt. Einerseits sind wir für eine bestimmte Sache, andererseits haben wir
Bedenken. Wofür sollen wir uns entscheiden? Wir sind zwischen den beiden
Möglichkeiten, die wir sehen, so hin- und hergerissen, dass wir gar nicht auf
den Gedanken kommen, dass es auch eine dritte, vielleicht sogar ein vierte
Möglichkeit gibt.
Natürlich ist das ein Problem,
und wir sollten uns Mühe geben, es zu lösen und nicht nur in zwei Möglichkeiten
zu denken.
Viel dramatischer ist ein ganz
anderes Problem, das Problem, von vornherein nur eine Seite der Medaille zu
betrachten und so zu tun, als gäbe es eine zweite nicht. So gut wie immer führt
diese Auffassung in die Katastrophe.
Nach so viel vermeintlicher Gesetzmäßigkeit
zurück zum Zufall. Wie so oft im Leben spielt er eine große Rolle. Nehmen wir
das Fußballspiel. Sobald beide Mannschaften „aufgelaufen“ sind, muss
entschieden werden, wer den Anstoß hat, wer mit dem Spiel beginnt. Der
Schiedsrichter hat es in der Hand. Und was macht er? Er wirft eine Münze in die
Luft und delegiert damit die Entscheidung an den Zufall.
Gewissensfragen
So viele Menschen, so viele
Gewissen. Jeder von uns hat eins, obwohl manchmal von gewissenlosen Menschen
die Rede ist. Aer auch diese Menschen haben ein Gewissen. Es wird ihnen nur
abgesprochen.
Im Allgemeinen bemerken wir unser
Gewissen gar nicht. Nur manchmal meldet es sich. Dann sprechen wir von einem
schlechten Gewissen. Wir haben irgendetwas getan oder unterlassen und fragen
uns auf einmal: War das richtig? Dann ist es zu spät, und wir müssen überlegen,
wie wir unseren Fehler wieder gutmachen können.
Besser wäre es gewesen, wir
hätten schon vorher auf unser Gewissen gehört. Natürlich brüllt uns unser
Gewissen nicht an. Es spricht leise, und manchmal wispert es nur und ist
deshalb schon mal zu überhören. Manchmal allerdings wollen wir es auch nicht
hören. Wir hören weg. Eigentlich geht das nicht – wegsehen: ja, weghören: nein
– und dann wird unser Gewissen schon mal laut. Alarm! Jetzt müssen wir etwas
tun. Wenn wir das getan haben, sind wir wieder mit uns im Reinen und haben ein
gutes Gewissen.
Weil wir gerade dabei sind, uns
gewissenhaft mit unserem Gewissen zu befassen, fragen wir jetzt doch mal, woher
unser Gewissen überhaupt kommt und was es uns sagen will. Dass wir ein Gewissen
haben, verdanken wir unseren Eltern, Großeltern und vielleicht sogar unseren
Urgroßeltern, dem einen oder anderen Menschen wohl auch. Und was sagt uns unser
Gewissen? Es sagt: „Das tut man. Das tut man nicht. Das gehört sich. Das gehört
sich nicht.“ Das ist das Grundlegende. Anderes kommt noch hinzu. Wir könnten
sagen: Das Gewissen ist der Kompass, das Navi, mit dem wir den richtigen Weg
durchs Leben finden.
Richtig. Aber jetzt wird es
spannend. Erinnern wir uns daran, dass es so viele Gewissen wie Menschen gibt.
Viele stimmen überein, andere sind sich ähnlich und wieder andere unterscheiden
sich, nicht selten dramatisch. Das geht hin bis zur Gewissenlosigkeit. Sie muss
eine große Anziehungskraft haben, wie so viele schreckliche Beispiele aus der
Politik über alle Zeiten hinweg zeigen. Wie kommt es, dass sich unzählige
gewissenlose Gewissen zu einer vernichtenden Macht verbinden?
Jetzt aber mal runter aus
philosophisch angehauchten Wolken auf den Boden der Tatsachen, der so
schwankend ist, dass ihm auch nicht ganz zu trauen ist. Dabei werden wir nicht
nur der Gewissenlosigkeit begegnen, sondern auch der Verantwortungslosigkeit.
Die beiden Begriffe sind sich ähnlich. Wir sollten sie aber nicht verwechseln.
Das würde zu Ungerechtigkeit führen.
„Die Abgeordneten des (deutschen)
Bundestages sind nur ihrem Gewissen un-terworfen.“ Das dürfen wir mit Fug und
Recht infrage stellen; denn es gibt den Fraktionszwang. Der wird fleißig
ausgeübt, von allen Parteien, ist aber in keinem Gesetz und auch nicht in der
Bundestagsgeschäftsordnung erwähnt. Es dürfte ihn nicht geben.
Die Argumente, die für den
Fraktionszwang ins Feld geführt werden, sind erschreckend und lächerlich
zugleich: Ohne ihn ließe sich nicht regieren!
Frage: Handeln die Abgeordneten,
die sich dem Fraktionszwang unterwerfen und nicht ihrem Gewissen folgen,
gewissenlos? Oder nur verantwortungslos? Auch das wäre schlimm.
Machen wir weiter mit dem
Amtseid, den Bundesminister abzulegen haben. Wie sieht es da aus?
Artikel 56
unserer Verfassung legt den Amtseid bzw. den Text des Amtseids fest:
Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen,
seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze
des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und
Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. So wahr mir Gott helfe.“
Das mit Gott geht inzwischen
nicht jedem mehr über die Lippen, alles andere schon. Und was bedeutet dieses
Gelöbnis? Nicht viel bis gar nichts. Der
Amtseid ist eine politische Absichtserklärung und sonst gar nichts.
Mögliche
rechtliche Folgen, wie sie von vielen wegen vermeintlichen Eidbruchs von
Politikern gefordert werden, gibt es nicht. Der Amtseid ist also, mangels Konsequenz, eine inhaltsleere Hülle.
Schlimmer noch: er erzeugt eine Erwartung an etwas, das nicht da ist.
Selbstbestimmt
Immer wieder und immer häufiger
hören und lesen wir, dass jeder von uns das Recht hat, ein selbstbestimmtes
Leben zu führen. Ist dagegen irgendetwas einzuwenden? Eigentlich nicht.
Aber was heißt eigentlich?
Vielleicht gibt es doch einen Einwand? Und wenn ja, was wäre einzuwenden?
Der wichtigste Einwand: Die um
sich greifende, aufs Minimum reduzierte Betrachtungsweise: entweder schwarz
oder weiß. Zwischentöne gibt es nicht, von den Farben des Regenbogens ganz zu
schweigen. Anders gesagt: Rücksichtslosigkeit. Unter Selbstbestimmung scheint
vor allem gemeint zu sein: Ich mache, was ich will. Alles andere und alle
anderen sind mir egal.
Natürlich kann man das versuchen.
Das kann auch gelingen, oft genug mit den schrecklichsten Folgen. Deshalb
empfiehlt es sich, nicht nur einmal zu überlegen, sondern noch ein zweites,
vielleicht sogar ein drittes Mal.
Immer nur mit dem Kopf durch die
Wand? Am besten nicht. So selbstbestimmt wie wir sind auch die anderen. Also?
Ein ganz klein wenig rücksichtsvoller
sein würde helfen. Da müssen wir weder den Arzt noch den Apotheker fragen.