Mittwoch, September 27, 2017

Wer hat Angst vorm "Schwarzen Mann"?

Drei Tage vor der Bundestagswahl ist diese Frage berechtigt. Sie richtet sich an alle Parteien, die Aussicht haben, für die nächsten vier Jahre in den Bundestag zu kommen, nur nicht an die AfD. Die ist nämlich der Schwarze Mann.  

Die Zeit der lockeren Witze, „AfD, die Alternative für Dumme“, ist vorbei. Alle Parteien haben Angst vor dem „Schwarzen Mann“, und jede Partei hat ihre Gründe.

Die CDU rechnet damit, dass viele ihrer Wählerschäfchen sich als schwarze Schafe herausstellen und sich unter die AfD-Herde mischen und dort ihr Glück suchen. Ob sie es dort finden, sei dahingestellt.

Die CSU fürchtet die Abwanderung von Tiefschwarz zu noch tieferem Schwarz, weil sie ihre absolute Mehrheit bei der nächsten Landtagswahl in Gefahr sieht.

Die SPD ängstigt sich davor, vom Schwarzen Mann in die nächste Große Koalition geschubst, oder – noch schlimmer – in die Opposition verbannt  zu werden, die ja, münteferingsch gesagt, Mist ist.

Und die lieben Kleinen – GRÜNE, LINKE, FDP – haben sie auch Angst? Auf jeden Fall dann, wenn sie in der Opposition landen. Dort sitzt nämlich der Schwarze Mann schon und wird den Ton angeben.

Alle Parteien haben die AfD vorsorglich in die Opposition geschickt. Das wird so gern vergessen. Der Schwarze Mann hat sich in dieser Rolle längst komfortabel und mit Vergnügen eingerichtet.

Egal wie die Wahl am 24. September ausgeht: An diesem Sonntag  ist die Angst-partie vorbei. Alle sehen dann, was sie angerichtet haben und können dann anfangen, ihre Sache besser zu machen als bisher. Das wird kein Kinderspiel sein. 21. 09. 2017

Ende der Angstpartie, oder…?

Wie ist‘s denn nun mit der Angst vorm „Schwarzen Mann“? Vorbei? Oder fängt die Angstpartie jetzt erst richtig an?

Der CDU – genauer der Union – sind tatsächlich eine Million Schäfchen an den Schwarzen Mann verlorengegangen. Und dann auch noch mehr als eine Million grasen jetzt bei der FDP.

Die CSU ist richtig abgestürzt, bibbert jetzt noch mehr vor der Landtagswahl im kommenden Jahr. Ob Herr Drehhofer, pardon, Herr Seehofer, mitgerissen wird, ist zwar nicht ausgemacht, aber nicht ausgeschlossen.

Die SPD hat sich nicht in die nächste GroKo schubsen lassen. Sie hat ihre Angst überwunden, ist zur Mutpartei mutiert und geht in die Opposition.

DIE LINKE bleibt, wo sie war: in der Opposition.

Den GRÜNEN und der FDP bleibt das erspart. Sie müssen sich jetzt vor etwas ganz anderem fürchten: vor Verantwortung.

Die Gespräche mit Frau Merkel können heiter werden; denn Frau Merkel will weitermachen wie bisher – hat sie gesagt, es sei ja auch alles bisher richtig gewesen. Ihre Gesprächspartner wollen nicht alles, aber vieles anders machen.

Und dann der „Schwarze Mann“ selbst, die AfD. Mit 94 Abgeordneten wird sie sich in der Opposition komfortabel einrichten. Die erste Geige wird sie allerdings nicht spielen. Da ist die SPD davor.

Viel Unvernunft vor der Wahl. Viel Unvernunft auch heute noch. Da müssen wir  Wähler tüchtig aufpassen. 27. 09. 2017  






Sonntag, September 17, 2017

Autofahren ist tödlich

Seit einiger Zeit steht auf jeder Zigarettenpackung „Rauchen ist tödlich“.  Das stimmt nicht, wie die Erfahrung zeigt. Rauchen kann tödlich sein, muss es aber nicht.

Vielleicht hat der Gesetzgeber deshalb darauf verzichtet, Autos mit dem Hinweis „Autofahren ist tödlich“ zu versehen.  Schließlich ist es wie beim Rauchen: kann, aber muss nicht. Für 3.214 Autofahrer endete 2016 die Fahrt tödlich. Schlimm genug, aber Millionen kamen wohlbehalten ans Ziel.

Politiker wären jetzt geneigt zu sagen: Jeder tödliche Unfall ist einer zu viel. Verzichten wir auf diese Floskel. Die Automobilhersteller haben das schon immer gewusst. Es ist sicherlich nicht übertrieben zu sagen, dass Autos immer sicherer geworden sind. Gegen leichtfertige, leichtsinnige, verantwortungslose Autofahrer sind die Hersteller natürlich machtlos. Das ist ein etwas anderes Thema, auf das aber noch einmal zurückzukommen ist.

Fest steht: Die Autos heute sind sicherer als die von gestern, von vorgestern ganz zu schweigen, und die Hersteller arbeiten daran, hier immer noch besser zu werden. Allerdings dürfte es höchste Zeit sein zu fragen, ob sie sich nicht verzetteln und mit ihrem Streben nach immer mehr Sicherheit sogar das Gegenteil erreichen.

Kleines Beispiel: der Totwinkelwarner. Wenn von hinten jemand angerauscht kommt und sich im sogenannten Totwinkel befindet, also im Rückspiegel nicht zu sehen ist, macht das System akustisch und optisch darauf aufmerksam. Klingt nach Sicherheit und sieht nach Fortschritt aus. Stimmt, wenn überhaupt, nur bedingt. Die Versuchung ist groß, auf den so wichtigen Blick in den Rückspiegel zu verzichten. Dabei ist eine Erkenntnis sicher: Wer zwischendurch immer wieder  zurückblickt, kommt sicherer voran.

Spurwechsel- Spurhalteassistent. Warum an „keep your lane“ denken, wenn das Auto einem das abnimmt? Abstandswarner. Warum auf den sicheren Abstand zum Vorausfahrenden achten, wenn das Auto es ganz allein macht? Verkehrs-zeichenerkennung – Vorfahrt, Geschwindigkeitsbegrenzung, Halteverbot? Dele-giert ans Auto?   Hat sich da nicht jemand vor Kurzem in Amerika buchstäblich um seinen Kopf gefahren, weil das System ein Verkehrsschild mit einem kreuzenden LKW verwechselte?

Es gibt viele andere Beispiele. Die meisten zeigen, dass falsch verstandenes Sicherheitsstreben der Hersteller zur Entmündigung des Autofahrers führen, zu mehr Gleichgültigkeit, Leichtsinn und - Bequemlichkeit.

Mit der Bequemlichkeit beschäftigen sich andere Bereiche der Hersteller. Über die Autos,  die sich ihren Platz im Parkhaus selbst suchen, die Autos, die erkennen, ob sie in eine Parklücke hineinpassen, und wenn ja, vorwärts oder rückwärts zentimetergenau einparken, sind sie längst hinaus.

Sie sind dabei, uns wie die Kinder zu behandeln, nein, eigentlich wie Demente, die nichts mehr auf die Reihe bringen. Sie arbeiten am Auto, das unseren Kalender kennt, selbständig die beste Route zu den einzelnen Terminen ausfindig macht, uns beim Stau früher weckt und sich vielleicht sogar mit Lieferdiensten  abspricht, die uns unterwegs noch die letzten Einkäufe ins Auto reichen.

Audi-Anzeige in DIE ZEIT, 14. 09:
„Der neue Audi A8 ist mehr. Mehr Büro. Mehr Lounge. Mehr Konzertsaal.“
(Frage: Aber doch nicht etwa weniger Auto?)

Audi-Anzeige im SPIEGEL vom 16. 09:
„Sie glauben nicht an höhere Intelligenz? Denken Sie nicht an ein Auto. Denken Sie in A8. – Der neue Audi A8 . – Ob Sie an sie glauben oder nicht – im neuen Audi A8 werden Sie sie erleben. Seine künstliche Intelligenz lässt sogar die eleganten OLED-Heckleuchten* mitdenken: Sie aktivieren automatisch die Nebelschlussleuchten und dimmen an den Ampeln das Licht, damit andere nicht geblendet  werden. Beim Öffnen des Audi A8 werden Sie von einer Licht-inszenierung* begrüßt, die sich im Innenraum fortsetzt. Beim Aussteigen weisen Ihnen die präzisen Scheinwerfer den Weg zur Haustür. Kaum zu glauben, aber wahr.  – Audi Vorsprung durch Technik. *Optionale Ausstattung.“

(Eine Frage von vielen: Welche Haustür? Etwa nicht nur die eigene?)

Anscheinend noch nicht gelöst sind so kleine Probleme wie Datenschutz und Datensicherheit. Horrorvorstellung: Auf  Knopfdruck eines Cyber-Angreifers machen zig Autos auf der Autobahn eine 90-Grad-Rechtskurve. 

Entmündigung des Autofahrers? Daran wird gearbeitet. Konsequent wäre es, den Führerschein abzuschaffen. Der Kauf eines Autos schließt die Lizenz zum Töten –pardon – zum Fahren – ein.





Samstag, September 16, 2017

Nachrichten aus einer anderen Welt

„Erkennen Sie die Zukunft, wenn sie vorfährt?“ fragt Audi  und gibt darauf auf drei Seiten überraschende Antworten.

Seite 1:
Willkommen in der Digital First Class.
Wer so gut wie alles hat, hat von einem meist zu wenig: Zeit. Die Digitalisierung im neuen Audi A8 schafft Ihnen neue Freiräume. Mit der Ausstattung eines modernen Büros und dem Komfort einer exklusiven Lounge. Lehnen Sie sich bei einer Massage zurück und genießen Sie wahlweise die absolute Stille hinter den Dämmglasscheiben* oder die 1.920 Watt des Bang & Olufsen Sound Systems mit hochauflösendem 3D-Klang*. Sind Sie bereit zum Priority Boarding? Dann erleben Sie den neuen Audi A8 als einer der Ersten auf der IAA. – Audi Vorsprung durch Technik.

*Optionale Ausstattung“

Seite 2:
Machen Sie Ihre IT-Abteilung neidisch.
Endlich gibt es die Technik, die sich ganz von selbst erklärt. Zumindest im neuen Audi A8. Sein intelligentes Bedienkonzept macht Knöpfe weitgehend überflüssig und überzeugt durch innovative Touch Displays mit sensitivem Feedback. Die herausnehmbare Rear-Seat-Remote-Bedieneinheit* lässt Sie auch auf den Premiumsitzen im Fond* des Audi A8 sämtliche Komfort- und Entertainmentfunktionen bequem bedienen. Und das alles so intuitiv dass Sie kein Manual benötigen. Geschweige denn, einen IT-Experten.  – Audi Vorsprung durch Technik.

*Optionale Ausstattung“

Seite 3:
Denken Sie nicht an ein Auto. Denken Sie in A8.
Fortschritt erfordert neues Denken. Vergessen Sie deshalb alles, was Sie über Autos wissen. Und denken Sie neu: innovativer, komfortabler, intelligenter. Der neue Audi A8 ist mehr. Mehr Büro. Mehr Lounge. Mehr Konzertsaal. Mehr Chatroom. Und damit mehr persönlicher Freiraum. Vergessen Sie den Status quo. Denken Sie in neuen Ansprüchen. Denken Sie in A8. – Audi Vorsprung durch Technik.

(Audi-Anzeige in der Hamburg-Ausgabe der ZEIT vom 14. September 2017.)

Ein automobiler Albtraum

Dieses Hohe Lied der automobilen Gebrauchslyrik verdient es, besonders gewürdigt zu werden – Satz für Satz und gelegentlich auch Wort für Wort. Nur so lässt sich eine Welt entschlüsseln, die mehr einem Albtraum gleicht als irgendetwas anderem. Gott schütze nicht nur die Königin, sondern auch uns!

„Willkommen in der Digital First Class.“ – Die Einladung gilt offensichtlich den Menschen, die zu wenig Zeit haben, irgendwelche Freiräume vermissen und ohne rollendes Büro (Office!) mit exklusiver Lounge und Massagesalon nicht zurechtkommen. Irgendetwas scheint ihnen immer zu fehlen, ganz besonders eben Zeit. Dabei hat der Tag doch auch für sie 24 Stunden. Vielleicht können sie sich ihre Zeit nicht richtig einteilen. Ob ein Auto da wirklich hilft? „Bereit zum Priority Boarding?“ Antwort: Danke nein, lieber nicht.

„Endlich gibt es die Technik, die sich ganz von selbst erklärt. Zumindest im neuen A8.“ Ach ja? Endlich? Zugegeben, es ist schon ziemlich lange her, da setzte man sich in Auto, rückte den Fahrersitz zurecht, stellte die Rückspiegel ein – alles mit der Hand – und fand sich sofort zurecht, sogar ohne Führerschein: Knüppelschaltung, Lenkradschaltung, Zündschloss, Gas- und Bremspedal, Hand-bremse, Lichtschalter, Winker oder Blinker – alles und jedes ein klarer Fall. Das war so, auch wenn wir es noch nicht intuitiv nannten. Entsprechend dünn waren die Betriebsanleitungen. Sie gaben Auskunft über Ölwechsel- und Inspektions-zeiten, über Radwechsel und das Auswechseln von Glühbirnen und so. Das mit den Manuals kam später, als sich niemand mehr in seinem Auto zurechtfand und man selbst kaum noch etwas tun konnte.

„Fortschritt erfordert neues Denken. Denken Sie in A8.“ Das ist eine ziemlich komische Art zu denken, weil dazu auch das komfortable Denken gehört,  so die Empfehlung. Denken im Lounge-chair, im Schlaf oder so? Das führt dann zu mehr Büro, mehr Lounge, mehr Konzertsaal, mehr Chatroom, mehr persönlichem Freiraum (was immer das sein soll)?  Wohl kaum, und zu mehr Zeit auch nicht.

Wenn schon in neuen Ansprüchen gedacht werden soll, dann vielleicht mit der Forderung: make it simple, mach es einfach.



Mittwoch, September 06, 2017

Zur Feier des Tages

Auf den ersten Blick haben Feiertage und Gedenktage nichts miteinander zu tun. Dazu sind sie zu unterschiedlich. Wir feiern Erfolge, glückliche Augenblicke und gedenken der Ereignisse, die uns schmerzen, die wir nicht selten am liebsten vergessen würden. Und doch gibt es Gemeinsamkeiten. Sehen wir uns die Sache doch einmal in Ruhe an.

Beginnen wir mit dem 9. November. Kein Tag wie jeder andere. Im Gegenteil: ein deutscher Schicksalstag. 1918: der Krieg ist verloren. 1923: Der Hitlerputsch, „Marsch zur Feldherrnhalle“. Der Marsch in die Diktatur nur verschoben.1938: Die „Reichskristallnacht“. Jüdische Bürger werden umgebracht, ihre Gotteshäuser, die Synagogen, niedergebrannt. Aus Niedertracht und Menschenver-achtung auf dem Weg zum millionenfachen Mord. Und dann der 9. November 1989: Die Mauer fällt. Zwei Deutschland auf dem Weg zu wieder einem Deutschland.

Drei Katastrophen, ein glückliches Ereignis. Ein Tag zum Feiern, ein Tag zum Gedenken?  Der 9. November ist beides. Sollten wir ihn feiern, dann dürften wir die dunklen Tage nicht vergessen. Aber wir behandeln diesen Tag wie jeden x-beliebigen, wir beachten ihn nicht, haben ihn nicht auf der Rechnung.

Stellvertretend für diesen gedenkens- und feierwürdigen Tag verordnet die Politik uns den 3. Oktober als nationalen Feiertag, als Tag der deutschen Einheit. Das Verdienst der Politik soll hier nicht beiseite gewischt werden. Sie hat legalisiert, was das Volk erreicht hatte: die Einheit. Das ist aber auch alles.

Berechtigt das die Politik, sich sozusagen ins gemachte Bett zu legen und aus dem 9. November einen 3. Oktober zu machen? Nein. Kein Wunder  also, dass dieser verordnete Feiertag nichts anderes geworden ist als ein freier Tag: statt Gedenk- und Feiertag ein Currywursttag.

Eins zu null für den 9. November, klarer Fall. Aber war da nicht noch etwas? Doch. Da war der 9. Oktober.

Wäre am 9. November die Mauer gefallen ohne diesen neunten Tag im Oktober, ohne die 70.000 Leipziger Bürger, die friedlich, aber unnachgiebig durch ihre Stadt zogen und ihre Freiheit verlangten? Ohne die Nikolaikirche und die Pastoren Führer und Schorlemmer und andere namenlose Bürger? Nein.

Neun Gründe führten die beiden Pastoren in einem Aufruf für den 9. Oktober an und fassten zusammen: „Lassen sie uns im glücklich vereinigten Deutschland nicht den Staatsakt vor dem Brandenburger Tor, sondern die gewaltlose Volkser-hebung der Menschen auf den Straßen des Landes feiern. Was im Osten geschah und geschieht, geht uns alle an. Schließlich ist der 9. November nicht ohne den 9. Oktober denkbar.“

So wäre der 9. Oktober der ideale Nationalfeiertag, unbelastet von den dunklen Seiten des 9. November? Ja. Aber die eine wie die andere Möglichkeit blieb ungenutzt. Trotzdem: Vergessen wir diese Tage nicht – die vier des 9. November und den einen, den 9. Oktober.


Nehmen wir die Erinnerung an diese Tage als Ansporn, uns immer, jeden Tag, für eins einzusetzen: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Das darf uns niemand aus der Hand schlagen, keine Diktatur der Welt.

Grenzenloses Europa - ein Fortschritt?

Die Politik feiert als Fortschritt, dass die Grenzen der einzelnen europäischen Länder nur noch auf dem Papier stehen, und wir Bürger genießen den Vorzug, von Land zu Land zu Land reisen zu können, ohne unseren Pass vorzeigen zu müssen.

Aber warum sprechen wir von Fortschritt, wenn wir diese Freiheit doch schon vor Jahrzehnten hatten? Erich Loest entdeckte – es ist einige Jahre her – an der Autobahnbaustelle Dresden/Prag folgenden Text:

„Vor dem ersten Weltkrieg, als niemand an den europäischen Grenzen Pässe brauchte, fuhr das deutschsprachige Prager Bürgertum – viele Juden darunter – im Luxuszug nach Dresden zum Opernbesuch. Auf der Hinfahrt wurde gespeist, auf der Rückfahrt getanzt. Mit dem Gegenzug strebten Dresdner nach Prag in Theater.“


So ist, was heute Fortschritt genannt wird, eigentlich eine Rückkehr zu den Wurzeln. Das allerdings soll unsere Freude an wiedergewonnener Freiheit nicht mindern. 

Einerseits und andererseits und außerdem

Der Zufall beherrscht unser Leben und gehorcht trotzdem bestimmten Gesetzen. Manche davon sind ganz einfach. Auf jeden Fall sieht das so aus. Ob das auch stimmt?

Welche Münze wir auch in die Hand nehmen – sie hat zwei Seiten. Auf der einen Seite Kopf, auf der anderen Seite Zahl. Selbst wenn sie anders geprägt sein sollten – es bleibt bei zwei Seiten. Das ist so eine Art Gesetzmäßigkeit.

Und richtig: Kopf oder Zahl, links oder rechts, oben oder unten, schwarz oder weiß, richtig oder falsch… die einseitige Zweiseitigkeit der Münze verführt dazu, immer nur zwei Möglichkeiten zu sehen – wenn überhaupt. Es gibt ja auch noch die Alternativlosigkeit, die gern ins Feld geführt wird, wenn man gar nicht mehr weiter weiß. Aber das ist ein anderes Thema.

Bleiben wir bei der der Zweiseitigkeit der Münze, bei den beiden Seiten der Medaille, wie es so schön heißt. Einerseits sind wir für eine bestimmte Sache, andererseits haben wir Bedenken. Wofür sollen wir uns entscheiden? Wir sind zwischen den beiden Möglichkeiten, die wir sehen, so hin- und hergerissen, dass wir gar nicht auf den Gedanken kommen, dass es auch eine dritte, vielleicht sogar ein vierte Möglichkeit gibt.

Natürlich ist das ein Problem, und wir sollten uns Mühe geben, es zu lösen und nicht nur in zwei Möglichkeiten zu denken.

Viel dramatischer ist ein ganz anderes Problem, das Problem, von vornherein nur eine Seite der Medaille zu betrachten und so zu tun, als gäbe es eine zweite nicht. So gut wie immer führt diese Auffassung in die Katastrophe.


Nach so viel vermeintlicher Gesetzmäßigkeit zurück zum Zufall. Wie so oft im Leben spielt er eine große Rolle. Nehmen wir das Fußballspiel. Sobald beide Mannschaften „aufgelaufen“ sind, muss entschieden werden, wer den Anstoß hat, wer mit dem Spiel beginnt. Der Schiedsrichter hat es in der Hand. Und was macht er? Er wirft eine Münze in die Luft und delegiert damit die Entscheidung an den Zufall. 

Gewissensfragen

So viele Menschen, so viele Gewissen. Jeder von uns hat eins, obwohl manchmal von gewissenlosen Menschen die Rede ist. Aer auch diese Menschen haben ein Gewissen. Es wird ihnen nur abgesprochen.

Im Allgemeinen bemerken wir unser Gewissen gar nicht. Nur manchmal meldet es sich. Dann sprechen wir von einem schlechten Gewissen. Wir haben irgendetwas getan oder unterlassen und fragen uns auf einmal: War das richtig? Dann ist es zu spät, und wir müssen überlegen, wie wir unseren Fehler wieder gutmachen können.

Besser wäre es gewesen, wir hätten schon vorher auf unser Gewissen gehört. Natürlich brüllt uns unser Gewissen nicht an. Es spricht leise, und manchmal wispert es nur und ist deshalb schon mal zu überhören. Manchmal allerdings wollen wir es auch nicht hören. Wir hören weg. Eigentlich geht das nicht – wegsehen: ja, weghören: nein – und dann wird unser Gewissen schon mal laut. Alarm! Jetzt müssen wir etwas tun. Wenn wir das getan haben, sind wir wieder mit uns im Reinen und haben ein gutes Gewissen.

Weil wir gerade dabei sind, uns gewissenhaft mit unserem Gewissen zu befassen, fragen wir jetzt doch mal, woher unser Gewissen überhaupt kommt und was es uns sagen will. Dass wir ein Gewissen haben, verdanken wir unseren Eltern, Großeltern und vielleicht sogar unseren Urgroßeltern, dem einen oder anderen Menschen wohl auch. Und was sagt uns unser Gewissen? Es sagt: „Das tut man. Das tut man nicht. Das gehört sich. Das gehört sich nicht.“ Das ist das Grundlegende. Anderes kommt noch hinzu. Wir könnten sagen: Das Gewissen ist der Kompass, das Navi, mit dem wir den richtigen Weg durchs Leben finden.

Richtig. Aber jetzt wird es spannend. Erinnern wir uns daran, dass es so viele Gewissen wie Menschen gibt. Viele stimmen überein, andere sind sich ähnlich und wieder andere unterscheiden sich, nicht selten dramatisch. Das geht hin bis zur Gewissenlosigkeit. Sie muss eine große Anziehungskraft haben, wie so viele schreckliche Beispiele aus der Politik über alle Zeiten hinweg zeigen. Wie kommt es, dass sich unzählige gewissenlose Gewissen zu einer vernichtenden Macht verbinden?

Jetzt aber mal runter aus philosophisch angehauchten Wolken auf den Boden der Tatsachen, der so schwankend ist, dass ihm auch nicht ganz zu trauen ist. Dabei werden wir nicht nur der Gewissenlosigkeit begegnen, sondern auch der Verantwortungslosigkeit. Die beiden Begriffe sind sich ähnlich. Wir sollten sie aber nicht verwechseln. Das würde zu Ungerechtigkeit führen.

„Die Abgeordneten des (deutschen) Bundestages sind nur ihrem Gewissen un-terworfen.“ Das dürfen wir mit Fug und Recht infrage stellen; denn es gibt den Fraktionszwang. Der wird fleißig ausgeübt, von allen Parteien, ist aber in keinem Gesetz und auch nicht in der Bundestagsgeschäftsordnung erwähnt. Es dürfte ihn nicht geben.

Die Argumente, die für den Fraktionszwang ins Feld geführt werden, sind erschreckend und lächerlich zugleich: Ohne ihn ließe sich nicht regieren!

Frage: Handeln die Abgeordneten, die sich dem Fraktionszwang unterwerfen und nicht ihrem Gewissen folgen, gewissenlos? Oder nur verantwortungslos? Auch das wäre schlimm.

Machen wir weiter mit dem Amtseid, den Bundesminister abzulegen haben. Wie sieht es da aus?
Artikel 56 unserer Verfassung legt den Amtseid bzw. den Text des Amtseids fest:
Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. So wahr mir Gott helfe.“
Das mit Gott geht inzwischen nicht jedem mehr über die Lippen, alles andere schon. Und was bedeutet dieses Gelöbnis? Nicht viel bis gar nichts. Der Amtseid ist eine politische Absichtserklärung und sonst gar nichts.

Mögliche rechtliche Folgen, wie sie von vielen wegen vermeintlichen Eidbruchs von Politikern gefordert werden, gibt es nicht. Der Amtseid ist also, mangels Konsequenz, eine inhaltsleere Hülle. Schlimmer noch: er erzeugt eine Erwartung an etwas, das nicht da ist. 

Selbstbestimmt

Immer wieder und immer häufiger hören und lesen wir, dass jeder von uns das Recht hat, ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Ist dagegen irgendetwas einzuwenden?  Eigentlich nicht.

Aber was heißt eigentlich? Vielleicht gibt es doch einen Einwand? Und wenn ja, was wäre einzuwenden?

Der wichtigste Einwand: Die um sich greifende, aufs Minimum reduzierte Betrachtungsweise: entweder schwarz oder weiß. Zwischentöne gibt es nicht, von den Farben des Regenbogens ganz zu schweigen. Anders gesagt: Rücksichtslosigkeit. Unter Selbstbestimmung scheint vor allem gemeint zu sein: Ich mache, was ich will. Alles andere und alle anderen sind mir egal.

Natürlich kann man das versuchen. Das kann auch gelingen, oft genug mit den schrecklichsten Folgen. Deshalb empfiehlt es sich, nicht nur einmal zu überlegen, sondern noch ein zweites, vielleicht sogar ein drittes Mal.

Immer nur mit dem Kopf durch die Wand? Am besten nicht. So selbstbestimmt wie wir sind auch die anderen. Also?


Ein ganz klein wenig rücksichtsvoller sein würde helfen. Da müssen wir weder den Arzt noch den Apotheker fragen.