Montag, Oktober 16, 2017
90 Prozent der Katalanen, die
sich am Referendum für eine Loslösung von Spanien entschieden haben, sind eine
überwältigende Mehrheit. Jedenfalls sieht das auf den ersten Blick so aus. Aber
stimmt das?
So dumm wie die Frage klingt, ist
sie nicht. Am Referendum haben sich nur 43 Prozent der Katalanen
beteiligt. Das heißt: Die 90 Prozent sind
nur 32,2 Prozent, also eine Minderheit. 67,8 Prozent scheint das Referendum
nicht wichtig gewesen zu sein. Oder vielleicht waren sie mit der Zugehörigkeit
zu Spanien einverstanden, zufrieden.
Nicht nur in diesem Fall schrumpft
beeindruckende Mehrheit zur Minderheit. Es lohnt sich, bei jeder Wahl daran zu
denken. Das verhindert den Übermut der Mehrheit, die so oft keine ist.
Der eingebildete Kranke
Folgen wir Molières Text
buchstaben- und sinngetreu, dann müssten wir vom eingebildet Kranken
reden, jemandem also, der sich
einbildet, krank zu sein. Es geht schließlich nicht um einen Kranken, der sich
auf etwas einbildet, sich für etwas Besseres hält, hochnäsig ist. Nach diesem
rabulistischen Ausflug zu uns selbst, zu uns und unseren Problemen, mit denen
wir uns auseinander Tag für Tag auseinandersetzen müssen.
So banal es klingt: Essen und
Trinken gehören nun mal dazu und damit auch das Einkaufen. Das muss irgendwann
einmal recht einfach gewesen sein. Kartoffeln, Gemüse, Milch, Butter, Brot und
Käse, Äpfel, Birnen, Erdbeeren usw. usw. – es wurde gekauft, wie es kam. Das
war nicht nur in den bitterarmen Zeiten gleich nach dem Krieg so, sondern auch
in guten Zeiten. Das hat sich geändert.
Natürlich wollen wir auch heute
gegen unser gutes Geld gute Ware erhalten. Es ist nur schwierig geworden
festzustellen, was gut ist und gut tut, und was nicht. Wir sind klüger
geworden. Die Wissenschaften haben so große Fortschritte gemacht, auch, was
Lebensmittel angeht, dass uns davon ganz schwindlig wird. Inhaltsstoffe – welch
ein Wort! – werden mit einer Genauigkeit vermessen als ginge es um eine
Punktlandung auf dem Mars. Und dann wird sortiert wie bei Aschenputtel: die
Guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen.
Das Dumme daran ist, dass darauf
kein Verlass ist. Ganz plötzlich ist das Gute schlecht und das Schlechte gut.
Unser Gehirn ist eigentlich ein ziemlich gutes Navigationssystem. Aber da ist
es überfordert und spielt verrückt. Und wir auch.
Ist linksdrehende Milchsäure
besser als rechtsdrehende, oder umgekehrt? Was ist das überhaupt? Mit der einen
Variante kommt die Verdauung schneller zurecht, bei der anderen geht es etwas langsamer.
Es ist ziemlich also ziemlich egal und kein Grund, sich Gedanken zu machen.
Falls dieses Beispiel zu abwegig
erscheint: Glutenfrei, laktosefrei – Hinweise, die für wenige wichtig sind,
aber viele verunsichern. Man weiß ja nie. Dann die pro-aktiven Yoghurte. Wirken
anscheinend vorauseilend. Es ist zum Verrücktwerden.
Was soll man noch glauben? – von Wissen kann nicht die Rede sein.
Aber da sind doch die
Inhaltsangaben auf den Etiketten. Da können wir lesen, was drin ist. Aber wer
kann mit den Angaben etwas anfangen? Haben wirklich alle in der Schule gelernt,
dass Glukose auch Zucker ist? Und wer hat schon Lebensmittelchemie studiert
oder etwas ähnlich Nützliches?
Inhaltsangaben auf den Etiketten
informieren nicht, sie setzen das Navigations-system unseres Gehirns außer
Gefecht. Wir blicken nicht mehr durch. Wir sind hilflos. Wir lassen uns an die
Hand nehmen und wandern durch das Paradies, das uns vermeintlicher Wissenschaftsfortschritt
und sein Missbrauch versprechen. Gesund
ist das nicht. Das Lesen von Inhaltsangaben ist übrigens auch ungesund. Die
Texte sind so klein gedruckt, dass sie bei häufigem Lesen zu Augenschäden
führen können.
Genau genommen
Man muss nicht jedes Wort auf die
Goldwaage legen. Ganz besonders dann nicht, wenn Politiker nach einer Wahl sich
dazu äußern, weshalb ihre Partei die angestrebten Ergebnisse nicht erreicht
hat. Da wird auf unterschiedliche Weise um die Sache herumgeredet. Jeder findet
da seine eigenen Worte, bis auf einen Satz. Den haben alle drauf, sozusagen
parteiübergreifend:
„Wir hätten uns ein besseres
Ergebnis gewünscht.“ Das war auf den Wahlpartys nach der Niedersachsenwahl zig
Mal zu hören. Irgendjemand muss ihnen diesen Satz eingebläut haben.
Hätten? Wieso hätten? Sie haben
sich also kein besseres Ergebnis gewünscht. Das hätten sie aber tun sollen. Nun
stehen sie ziemlich dumm da und trauen sich nicht zu sagen: „Wir haben uns ein
besseres Ergebnis gewünscht.“ Aber vielleicht klingt das zu brutal.
Ob man sich hinter „hätte“ besser
verstecken kann als hinter haben? Vielleicht ist das die Erklärung. So ein
bisschen klingt das wie „Hätte, hätte, Fahrradkette…“. Aber das nehmen wir mal
nicht so genau. Ausnahmsweise.
Mittwoch, Oktober 11, 2017
Was nehmen Sie sich eigentlich heraus...?
Wut? Verzweiflung,
Hoffnungslosigkeit…?
Was, meine Damen und Herren
Politiker, nehmen Sie sich eigentlich heraus? Was bilden Sie sich ein? Wie
kommen Sie dazu, uns vorzuschreiben, was wir zu denken und zu tun haben?
Wir haben Sie gewählt, damit Sie
unsere Wünsche in die Tat umsetzen. Natürlich nicht alle Wünsche. Wir sind
Demokraten: Wir haben uns darauf verständigt, dass die Mehrheit entscheidet.
Das ist nicht immer vernünftig, aber fair.
Sie kümmert das nicht. Sie tun
so, als gäbe es uns nicht. Sie entscheiden über unsere Köpfe hinweg. Sie
machen, was wir nicht wollen. Sie machen Kriege. Wir, die meisten Menschen,
wollen Frieden.
Und wenn religiöse Fanatiker
aufeinander losgehen? Wenn Menschen Grenzen ziehen, die jeder Vernunft
widersprechen – warum unternehmen Sie nicht alles, um das zu verhindern? Das wäre eine Ihrer
wichtigsten Aufgaben: Frieden zu schaffen.
Warum nehmen Sie die Gegensätze
von Arm und Reich widerspruchslos hin? Warum empören Sie sich über die Sklavenhaltung in der
Vergangenheit und sind doch dafür – nur unter dem Etikett „Globalisierung“?
Warum lügen Sie etwas weg, das
sich durch Lügen nicht aus der Welt schaffen lässt? Der Klimawandel, zugegeben:
von uns allen verursacht, ist eine chinesische Erfindung zu Nachteil der
USA? - so Donald Trump.
Sie setzen sich für die
Ausplünderung unserer Erde ein, heizen uns ein mit allem, was Kohle, Öl und Gas
zu bieten haben. Warum? Haben wir Ihnen dafür einen Auftrag gegeben?
Im Kleinen wie im Großen. Sie
predigen das Neue Testament und wollen vom Samariter nichts wissen, nichts von
dem Martin, der seinen Mantel mit dem Schutzlosen teilte? Ist es das, womit wir
Sie beauftragt haben?
Vom Kleinen zum ganz Kleinen, zum
Kleinlichsten: Zwei sich ziemlich spinne-feindlichen deutschen Schwesterparteien
verbringen einen ganzen Tag, um eine Obergrenze nicht Obergrenze zu nennen. Beide
bösen Schwestern wollten nicht das Gesicht verlieren. Das haben sie auch nicht.
Sie haben alles verloren, nicht nur das Gesicht. Niemand kann ihnen vertrauen. Jetzt nicht mehr.
Liebe Politikerinnen und
Politiker, was bilden Sie sich eigentlich ein?
"Darüber werde ich nachdenken lassen."
"Darüber werde ich nachdenken lassen." Das sagte Helmut Lemke, CDU, von 1963 bis 1971 Ministerpräsident von
Schleswig-Holstein, als er gefragt wurde, wie er sich die Lösung eines Problems
vorstellt.
Nachdenken lassen statt selbst nachzudenken. Am liebsten würde ich
sagen: typisch Politiker. Aber das lasse ich lieber, es wäre nicht fair. Auf
jeden Fall habe ich mich erst mal kaputt gelacht. Nachdenken lassen! Na, Sowas!
Aber eigentlich war Helmut Lemke ein moderner Mann, seiner Zeit um
Jahrzehnte voraus. Heute ist es üblich, dass Politiker in Think Tanks
nachdenken lassen. In diesen Denkbunkern sitzen kluge Leute, die sich
ausdenken, was Politiker so sich wünschen. Helmut Lemke hatte das schon damals drauf.
Er ließ denken.
Ich muss zugeben, dass ich nichts für meine grenzenlose Neugier kann.
Und so kam es, wie es kommen musste. Ich habe mich nach dem so hellsichtigen
Mann erkundigt.
Mir ist das Lachen vergangen als ich las, wer Helmut Lemke wirklich
war: Nicht nur ein hochrangiges CDU-Mitglied, sondern auch ein hochgradiger Nazi.
„Wir Nationalsozialisten stehen auf dem Boden des Führerprinzips. Wir
alle, jeder an seiner statt, sind dazu
aufgerufen, die Hammerschläge des Dritten Reiches auszuführen.“ So Helmut
Lemke. Und er meinte es ernst.
Auf Anordnung von Helmut Lemke wurden zahlreiche Sozialdemokraten und
Kommunisten in Eckernförde verhaftet. Zwei von ihnen, der KPD-Ortsvorsitzende
Hermann Ivers und Heinrich Otto, wurden später von den Nationalsozialisten
umgebracht.
„Man schüttet kein schmutziges Wasser weg, wenn man kein sauberes hat.“
Konrad Adenauer. Unter der braunen Brühe leiden wir heute noch.
10. 10. 2017
CDU-Mitglied und Nationalsozialist
„Wir Nationalsozialisten stehen
auf dem Boden des Führerprinzips. Wir alle, jeder an seiner statt, sind
dazu aufgerufen, die Hammerschläge des Dritten Reiches auszuführen.“[1]
Auf seine Anordnung wurden noch
im selben Monat zahlreiche Sozialdemokraten und Kommunisten
in Eckernförde verhaftet. Zwei von ihnen, der KPD-Ortsvorsitzende Hermann
Ivers und Heinrich Otto, wurden später von den Nationalsozialisten umgebracht.
Lemke bekleidete von 1937 bis Mai 1945 das Amt des Bürgermeisters von Schleswig.
Dienstag, Oktober 10, 2017
Schluss mit dem Schlussstrich!
Im Leitartikel „Steinmeiers große
Rede“ zitiert das Hamburger Abendblatt eine Aussage des Bundespräsidenten, die
ganz besonders zum Nachdenken und Handeln aufruft: „Die Verantwortung vor
unserer Geschichte kennt keine Schlussstriche.“
Alexander Gauland hatte Anfang
September in einer Rede dazu aufgerufen, einen Schlussstrich unter Deutschlands
Nazivergangenheit zu ziehen. Es ist naheliegend, dass Herr Steinmeier auch ihn
gemeint hat – aber eben nicht nur ihn. Das zu denken, wäre zu kurz gedacht. Der
Bundespräsident sprach von Schlussstrichen, er sprach nicht von einem
besonderen, auch wenn der mit gemeint war.
Es fällt nicht immer leicht, der
Wahrheit, zu der auch Unrecht gehört, ins Auge zu blicken. Deshalb ist die
Versuchung so groß, einen Schlussstrich zu ziehen. Nur: Damit ist die Sache
nicht aus der Welt. Sie lebt im Dunkel des Vergessens weiter, und wenn sie dann
ans Tageslicht kommt, wird alles noch schlimmer als es war.
Ein Beispiel, das Widerspruch
hervorrufen wird und trotzdem seine Berechtigung hat: die Entscheidung, den 3.
Oktober zum Tag der Deutschen Einheit zu erklä-ren. Einzig und allein eine
Politikerentscheidung, keine der Bürger.
Ein Schlussstrich unter einen
Staat, der seine Berechtigung verwirkt hatte. Ein Schlussstrich aber auch, der vergessen
machte – machen sollte? – dass es Leipziger Bürger waren, die 1989 Montag für
Montag auf die Straße gingen, am 9. Oktober zu 70.000-Tausenden, und so den
Fall der Mauer am 9. November ermöglichten. Die Bürger machten Politik,
friedlich und erfolgreich. Der 9. Oktober oder der 9. November, jeder dieser
beiden Tage wäre der Nationalfeiertag gewesen, den die Bürger gern gefeiert
hätten, statt ihn als nur als einen freien Tag zu sehen. Das kommt beim
Schlussstricheziehen raus. Sie schaffen das, was wir heute Fake News nennen.
Und oft ahnen wir nicht einmal, was uns verloren geht.
Weiß heute noch jemand, dass
Deutschland das einzige Land ist, das drei Natio-nalhymnen hat? Wahrscheinlich
nicht. Irgendein Schlussstrich hat das vermasselt.
Da haben wir einmal die von
August Heinrich von Fallersleben geschriebene „Deutschland, Deutschland über
alles…“. Das ist die heute gültige. Es gilt aber nur der dritte Vers,
verständlicherweise. Allein das mit „Von der Maas bis an die Memel…“ stimmt ja
nicht mehr. Und wer weiß schon, dass es von Fallersleben darum ging, dass aus
dem Flickenteppich von Kleinstkönigreichen, Herzogtümern und Grafschaften
endlich ein Deutschland, das über all dem entstehen sollte.
Dann die zweite, die der DDR,
geschrieben von Johannes R. Becher: „Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft
zugewandt, lasst uns die zum Guten dienen, Deutschland, einig Vaterland…“ Mit
jeder Zeile, die Becher geschrieben hat, könnte das heute noch unsere
Nationalhymne sein – wäre da nicht dieser Schlussstrich unter die DDR. So gut
wie nichts wurde gründlich aufgearbeitet, auch dies nicht: Seit Herr Honecker
auf die Zeile „Deutschland, einig Vaterland“ aufmerksam gemacht wurde, durfte
die DDR-Hymne nur noch ohne Text gesendet werden.
Drittens und ganz besonders
berührend: Die deutsche Kinder-Nationalhymne von Bertolt Brecht: „Anmut sparet
nicht noch Mühe… Und nicht über und nicht unter andern Völkern woll’n wir sein…
und das Liebste mag’s uns scheinen so wie andern Völkern ihrs.“
Vergessen wir nicht, dass wir mit
einem Schlussstrich nicht nur Fehler und Unangenehmes ins Vergessen schicken,
sondern auch alles Gute.
05. 10. 2017