Sonntag, Oktober 05, 2008

Keine Zeitung für Doofe

Die Frankfurter Allgemeine Zeitung stellt Ansprüche an ihre Leser. Volksschul- oder Mittelschulabschluss reichen nicht zum Verständnis des Gedruckten. Das Neusprachliche Gymnasium hätte da auch noch Schwierigkeiten. Nur „die Griechen und Lateiner“ könnten sich Chancen ausrechnen. (Mit Rücksicht auf sein Alter nennt der Autor die alten Schulbezeichnungen und vermeidet die neuen, verwirrenden Begriffe wie Hauptschule, Regionalschule, Gesamtschule und weiß der Himmel was sonst noch.)

Manchmal geht die FAZ in ihrer Neigung zum Elitären zu weit, so gedruckt am 4. September 2008 in der Nr. 207 auf Seite 37: Gamardschobad – Eine Soziologie Georgiens“. Der Autor: Tilman Allert, Jahrgang 1947, Professor der Soziologie und Sozialpsychologie an der Goethe-Univesität in Frankfurt am Main.

Vorweg sei gesagt, dass das, was Tilman Allert denkt und schreibt, den Kern der Sache trifft. Abendländische Kultur lässt sich nicht (mehr) auf anderen Lebensweisen übertragen – es sei denn mit Gewalt, wie Europa es einige Jahrhunderte gemacht hat.

Hier auszugsweise einige der Hürden, die Tilman Allert für die FAZ-Leser aufgebaut hat:

Voluntarismus = hier grundsätzliche Einstellung? – Eklatant = klar, offenkundig. – Transzendieren = übertragen. – Infrastrukturell = ? – Subsistenzwirtschaft = Wirtschaft, in der jeder auf sich selbst angewiesen ist? – Rezeption = Übernahme – Institutionstransfer = Übertragung fremder staatlicher Einrichtungen. – Differenzierung der Loyalitäten = Unterscheidung der Gruppenbeziehungen. – Zirkularität = Zusammenspiel. – Kumulative Lähmung = sich selbst verstärkende Lähmung. – Paradoxien = Widersprüchlichkeiten. – Komplement = Ergänzung. – Klientelistische Beziehungen = durch des Patron geprägte Beziehungen? – Fokussiert = konzentriert. – Endemischer Korruptionsverdacht = hier stets vorausgesetzter Korruptionsverdacht.

In den meisten Fällen ahnt man, was gemeint ist. Aber warum so ungenau? Das führt mich zu dem Wirtschaftswissenschaftler und Nobelpreisträger Joseph Stiglitz, der sagte: „…es ist falsch anzunehmen, dass es ‚perfekte Information auf den Märkten gibt’.“

Das gilt offenbar nicht nur für die Wirtschaft, sondern für alle Bereiche. Wo Genauigkeit fehlt, kommt die Phantasie ins Spiel. Und schon entsteht ein babylonisches Sprachengewirr. Missverständnisse können nicht ausbleiben (sind vorprogrammiert, heißt es heute). So entstehen Schwierigkeiten.

Es gibt aber auch eine andere Möglichkeit, Schwierigkeiten zu machen, wie George W. Bush, z.Zt. noch Mr. President of the USA, beweist. Er sagte „Demokratie“ und meinte Diktatur. er sagte „Freiheit“ und meinte Unterdrückung, er sagte „Selbstverteidigung“ und meinte Angriff.

Dieser Präsident hinterlässt sämtliche Demokratien der Welt in einem zutiefst traumatisierten Zustand.

Demokratie, Gerechtigkeit, Menschenrechte, Terrorismus… jedes (Wort) ist ein Mafia-Wort geworden, das der Menschheit gestohlen worden ist. (So der amerikanische John Berger, der auch notiert: „…und gleichzeitig ein gedankenpoli-zeiliches Überwachungssytem im Inneren etablierte, das keine Bibliothek und kein Labor auslässt.) – (Quelle: Feuilleton FAZ 04. 10. 2008, Frank Schirrmacher.)

Freitag, Oktober 03, 2008

Oral History - nichts als ein schöner Selbstbetrug?

Nein, von Betrug soll nicht die Rede sein. Von Irrtümern aber ja, von Vergesslichkeit und von dem unwiderstehlichen Drang, sich selbst in gutes, wenn nicht sogar in das beste Licht zu setzen.

Da lief vor einiger Zeit im Fernsehen „Die Flucht“. Es ging um die Flucht der Gräfi n

Dönhoff mit ihrem Gesinde, den Quittainern Gutsleuten, im Januar 1945 nach Westen, auf der Flucht vor der Roten Armee.

Die Darstellung der Gräfin Dönhoff durch Maria Furtwängler war, mit Verlaub gesagt, eine Katastrophe. Nur Schönheit, schön anzusehen, herrschaftliches Gehabe auf einem stolzen Ross, sonst nichts.

Schlimm genug. Aber es kommt noch schlimmer, wie Paul Stauffer am 24. 09. 08 in der FAZ schreibt (Seite 7): „Preußens große Soloreiterin“.

Da schreibt die Gräfin am 1. November 1944 an den Königsberger Universitäts-professor Walter F. Otto, dass sie die Eroberung Ostpreußens durch die Sowjets für unabwendbar halte und die Möglichkeit eines geregelten kollektiven Abzugs für illusorisch. Sie beabsichtige, sich „mit dem Reitpferd zu verselbständigen und allmählich nach Westen zu reiten“. Das hat sie dann auch getan, ohne ihr Gesinde, ohne die Quittainer.

Auf dem unmittelbar benachbarten Dohnanischen Gut Schlobitten war es anders. „Weit über dreihundert Schlobittern gelang das von Marion Dönhoff von vornherein für aussichtslos Gehaltene: Unter Führung des Gutsherrn kam ihr Treck im März 1945 in Nidersachsen an.

Marion Gräfin Dönhoff hat uns nicht belügen wollen. Ihre Erinnerung hat das, was geschehen ist, schön gefärbt, geschminkt. Sie hat das erzählt, was sie erleben wollte, was sie gern getan hätte. Das hat sie dann mit der Wirklichkeit verwechselt.

Glaube niemandem aufs Wort. Nicht, weil er vielleicht lügt, sondern weil er sich irren könnte. Suche Beweise. Nicht weil du misstraust, sondern weil du die Wahrheit herausfinden willst.

Finde dich damit ab, dass die Wahrheit oft auf schwachen Füßen steht, ein bisschen wacklig.

Das Schlimmste zum Schluss: Traue auch deinen eigenen Augen nicht. Was hast du bei dem Autounfall neulich gesehen? Wahrscheinlich etwas anderes als die anderen.

Wie trügerisch die Erinnerung ist, zeigt auch „Alles spricht für Olivacci“ von Thomas Medicus, Enkel des Generalmajors der Wehrmacht Wilhelm Crisolli. (FAZ Nr. 219, 18. September 2008, Seite 44.)

Dass Generalmajor Wilhelm Crisolli bei einem Partisanenüberfall im Apennin im September 1944starb, dürfte außer Frage stehen. Die Berichte, wo und wie es genau geschah, sind sehr widersprüchlich. Jedenfalls stimmen sie nicht überein. Die Erinnerungen von Partisanen, von anderen Zeitzeugen und Eintragungen in den Kriegstagebüchern der Wehrmacht unterscheiden sich deutlich. Jede Quelle nimmt die Wahrheit für sich in Anspruch.

Nein, von Lügen, von Schönfärben und sich ins rechte Licht setzen soll hier nicht die Rede sein. Auf unser Gedächtnis ist kein Verlass. Das ist der Punkt. Nicht wir spielen anderen einen Streich, sondern unser Gedächtnis führt uns an der Nase herum.

Das bedeutet: Wer sich in der Vergangenheit – der eigenen oder der anderer – umsieht, muss nach Beweisen suchen. Dokumente, Berichte anderer Zeitzeugen, was immer er in die Hände bekommt.