Donnerstag, Mai 25, 2017
In Manchester hat sich ein Terrorist bei
einem Auftritt von Teenie-Star Ariana in die Luft gesprengt, hat 22 Menschen
ermordet und dreimal so viele verwundet. Unter den Toten ein achtjähriges
Mädchen, das sich so sehr auf ihr Idol gefreut hatte. Tot, ermordet,
umgebracht.
Trauer geht um die Welt und wird in
Worte gefasst wie diese: „All unsere
Gedanken sind bei den Opfern und den Familien von allen, die betroffen sind.“
(Theresa May, Premier-Ministerin). „Meine
Gedanken sind sind bei den Betroffenen und unseren großartigen
Rettungsdiensten.“ (Jeremy Corbyn, Chef der Labour-Partei). „In Gedanken bei den Toten, dem Leid der
Verletzten und denen, die ihre Liebsten noch suchen.“ (Steffen Seibert,
Sprecher der Bundesregierung). „Bitte
nehmt die Opfer und ihre Familien in eure Gedanken auf.“ (Justin Trudeau,
Kanadas Premierminister). „Meine Gedanken
sind bei den Opfern und ihren Familien.“ (Anne Hidalgo, Bürgermeisterin von
Paris).
Wie sich die Worte gleichen.
Vorgestanzt, schablonenhaft. Schon unzählige Male so oder ähnlich gehört. Alles
nur Heuchelei? Das zu denken und zu sagen, wäre nicht nur ungehörig, sondern
ungerecht. Und doch stellt sich ein Unbehagen ein, das sich nicht wegdenken
lässt. Sind es die abgenutzten Sätze, an denen das liegt? Sicherlich auch. Aber
möglicherweise sitzt der wahre Grund tiefer. Vielleicht ist es das Gefühl, das
Politiker und Bürger unausgesprochen gemeinsam empfinden: Mitgefühl und Trauer
sind zu einem Ritual erstarrt, zu einem Ritual aus dem aus keinen Ausweg gibt.
Es ist wie mit den Kranzniederlegungen, dem Zupfen an den Schleifen, dem
Händefalten, dem gesenkten Kopf und dem leeren Blick in die Ferne, die spürbare
Erleichterung, wenn alles getan ist.
Alles eine Formsache? In gewisser
Weise ja. Aber ohne die Form zu wahren, kommen wir nicht durchs Leben, im
öffentlichen so wenig wie im privaten. Es gibt eben Situationen, da verbietet
sich die Sprachlosigkeit, so angemessen sie im Grunde wäre.
Ein Wort verliert seine Unschuld
Die Erzählung ist von Haus aus eine
Literaturform, so wie die Kurzgeschichte, die Novelle, der Roman – nur ein
bisschen kleiner eben und vielleicht auch etwas näher am Märchen. Was erzählt
wird, muss nicht wahr sein. Nein, nicht gleich eine Lüge. Aber erfunden kann
eine Erzählung schon sein.
Aber nun ist etwas Merkwürdiges
passiert, genauer: Es geschieht etwas Merkwürdiges. Immer häufiger verlangen
immer mehr Journalisten von den Parteien eine Erzählung, meinen aber Programme.
Natürlich könnte man auf den Gedanken kommen, das sei ironisch gemeint. Schließlich
liest sich so manches Parteiprogramm tatsächlich wie eine Erzählung. Nicht
alles, manchmal sogar das Wenigste, ist ernst zu nehmen, hat etwas märchenhaft
Beruhigendes, um den Wähler sanft in den politischen Schlaf zu reden. Aber das
ist es nicht. Die Medien geben dem Wort Erzählung eine neue Bedeutung. Man
könnte auch sagen, hier handelt es sich um einen Eingriff in die DNA des
Wörtchens Erzählung.
Wer danach sucht, wie es dazu kam,
stößt ganz schnell auf den Begriff Narrativ. Der hat eine steile Karriere
hinter sich. Alles und alle Welt brauchte plötzlich ein Narrativ. Das war
sozusagen über Nacht überall zu lesen. Weil das viele Menschen nicht verstanden
haben, hat man sich darauf verständigt, Narrativ ins Deutsche zu übersetzen, also
Erzählung. So einfach kann es gehen. Erzählung versteht jeder. Dass aber
Journalisten mit Erzählung ein Programm meinen, was ja irgendetwas mit
Information zu tun hat – das versteht wahrscheinlich niemand.
Dienstag, Mai 23, 2017
Die Geschichte von den drei bösen Schwestern
Fake News und Alternative Fakten
sind Schwestern. Jetzt haben sie eine
kleine Schwester bekommen, die so böse ist wie sie. Sie heißt Narrativ und
läuft uns in letzter Zeit immer öfter über den Weg, von den beiden anderen ganz
zu schweigen. Alle drei verfolgen uns auf Schritt und Tritt. Heute nennt man so
etwas Stalking. Das ist verdammt gemein, und wir sollten uns das nicht bieten
lassen. Damit wir uns dagegen wehren können, sollten wir uns die drei einmal
etwas genauer ansehen. Um die Sache zu vereinfachen, nennen wir die drei F, A
und N.
A. ist am leichtesten zu durchschauen.
Einer Tatsache wird eine Behauptung entgegengesetzt. Die liest sich dann wie
die Tatsache. Aber spätestens beim zweiten Blick entpuppt sich das meist als
Schwindel. Es ist also ziemlich einfach, der Sache auf die Spur zu kommen.
F. macht es uns schon schwerer. Eine
Unwahrheit wird so raffiniert frisiert, dass sie wie die Wahrheit aussieht. Die
Wahrheit und nichts als die Wahrheit. Ein bisschen ist das so wie bei einem
Friseur: F. geht rein und kommt als W. Wahrheit wieder raus. So sieht es jedenfalls erst mal aus. Nur wer
genau hinsieht, fällt auf diesen Trick nicht rein.
N. ist die jüngste der drei Schwestern
und wahrscheinlich die raffinierteste. Sie tritt so unschuldig auf, dass man
ihr nichts Böses zutrauen möchte. Dabei tauscht sie blitzschnell wie ein
Hütchenspieler wichtige Begriffe gegeneinander aus, macht aus Informationen
Geschichten, gaukelt uns vor, dass Geschichten das Aller-wichtigste sind. Sie
behandelt uns wie Kinder, erzählt uns Geschichten, damit wir schneller
einschlafen. Wenn eine Partei überzeugen will, dann muss sie eine Geschichte
erzählen, sagt sie, ein Narrativ.
Geschichten können spannend sein,
überraschend, aber sie sind keine Infor-mation. Sie tun nur so. Und weil nichts
so schön ist, wie eine gut erzählte, eine gut erfundene Geschichte, ist die
Gefahr groß, dass wir darauf reinfallen.
Die Gefahr sind wir selbst. Wir
lieben Geschichten. Man schläft dabei so schön ein.
Samstag, Mai 20, 2017
Kleine Unterschiede - ganz groß
So klein Unterschiede sein mögen
– gelegentlich sollte man sie groß heraus-stellen. Das verlangt einfach die
Gerechtigkeit. Auch Kleinigkeiten haben ihre Bedeutung.
Was ist der Unterschied zwischen
Theater und Musical? Wenn wir ins
Theater wollen, kaufen wir uns eine Karte, eine Eintrittskarte. Für ein Musical
brauchen wir ein Ticket.
Wie kann man nur auf so etwas
Albernes kommen? Ganz einfach. Man liest eine Ankündigung des Hamburger
SchauSpielHauses zum Programm der Spielzeit 2017- 18, und da ist von Karten,
Kartentelefon und Kartenservice die Rede, nicht von Tickets, Ticketphone,
Ticketservice. Das Theater hat offensichtlich noch keinen Tick, sondern tickt
ganz einfach richtig.
Fürs Musical brauchen wir also
ein Ticket. Gibt es da – das wäre konsequent – auch Platztickets anstelle von
Platzkarten? Diese Frage wäre auch bei der Bahn angebracht. Da gibt es auch nur
noch Tickets, aber keine Fahrkarten. Und wie sieht es bei der Platzreservierung
aus? Platzticket oder Platzkarte?
Und nun: Ernst beiseite. Man
nehme diesen kleinen Ausflug in die Sprache so leicht, wie er hingeschrieben
worden ist und nicht als einen treudeutschen Angriff auf den Gebrauch
englischer Wörter, die sich im Deutschen eingenistet haben, es sei denn sie werden
so dumm und so falsch benutzt wie das Public Viewing.
Ein anderes Beispiel: Der
Radfahrer und der Rad Fahrende. Hier geht es um einen Unterschied, der klein
aussieht, in Wirklichkeit aber ziemlich groß ist. Also: aufgepasst!
Eine Studentin der Stadtplanung
an der HafenCity Universität Hamburg führt im Rahmen ihrer Meisterarbeit eine
Umfrage bei Rad Fahrenden durch. Wie sie das machen will, ist rätselhaft; denn
diejenigen, die jetzt gerade Rad fahren, wird sie kaum befragen können.
Die junge Dame hat nicht
begriffen, dass ein Radfahrer nicht immer auch ein Rad Fahrender ist. Das ist
er nur, wenn er gerade im Sattel sitzt. Ein Autofahrer ist ja auch dann ein
Autofahrer, wenn sein Auto in der Garage steht. Erst wenn er Auto fährt, ist er
ein Auto Fahrender. Wenn wir jemanden fragen, der auf sein Auto zugeht, „sind
Sie ein Auto Fahrender?“, wird er sagen: „Ne, im Augenblick bin ich Fußgänger.“
Ein kleiner und zugleich doch großer Unterschied. Wie ist es dazu gekommen?
Das fing vor einiger Zeit mit einem
vermutlich absichtlichen Missverständnis einiger Damen an. Sie dachten, dass
mit „Studenten“ nur Männer gemeint seien; denn schließlich hieße es „der
Student“. Auf den Gedanken, dass „Studenten“ nicht nur Männer, sondern auch
Frauen sein können, sind die Damen nicht gekommen. Weil wahrscheinlich auch sie
„Studentinnen und Studenten“ zu umständlich fanden, bestanden sie darauf, von
Studierenden zu sprechen.
Dass zwischen Studenten, männlich
oder weiblich, und Studierenden ein wesentlicher Unterschied besteht, hat nicht
nur Roland Kaehlbrandt festgestellt. Aber er hat es besonders deutlich
ausgesprochen. Er wünschte sich, dass Studenten doch viel öfter auch
Studierende seien, also wirklich studieren.
Abgesehen davon: Der Student. Der
Studierende. Beides masculinum. In der von Feministinnen angezettelten
Diskussion ist der kleine Unterschied auf ein Nichts zusammengeschnurrt – bis
auf die Tatsache, dass die Damen mit der Grammatik nichts am Hut haben.
Wer Absurdes über angestrebte
politisch korrekte Schreibweise erfahren will, lese die Abhandlung der „AG
Feministisches Sprachhandeln der Humboldt-Universität zu Berlin“. Dort bieten
sich aufregende Möglichkeiten wie x-Form, x-Form I, Dynamischer Unterstrich,
Wortstammunterstrich, Statischer Unter-strich, Binnen-I – dies nur als
Beispiele. Wie gesagt: Von der Arbeitsgemeinschaft angestrebt, aber noch nicht
die Regel. Die schönste Idee ist vielleicht, die Wortendung „er“ gegen „a“ zu
ersetzen. Also Vata statt Vater, Koffa statt Koffer, Computa anstelle von Computer.
Die Begründung: Mit der männlichen Endung würden Frauen diskriminiert.
Wer hilft den feministisch
sprachhandelnden Damen zurück zu unverkrampftem Deutsch? Kein Helfa wird ihnen
helfen können. Sie müssten sich schon nach einem Helfer umsehen.
Die vier Himmelsrichtungen
Norden und Süden – Osten und
Westen. Nur diese vier Himmelsrichtungen gibt es, wenn wir mal die Feinheiten
von Nordnordwest, Ostsüdost und so weiter außer Acht lassen. Das würde bei unserem
Thema nur verwirren. Hier geht es um Politik und nicht um Geographie. Natürlich
macht das die Sache nicht einfacher. Im Gegenteil.
Also: Politiker sprechen
neuerdings gern von starken Kompassen, die sie unbedingt haben müssen. Ein
starker Kompass? Einer, der die Himmelsrichtungen genau anzeigt, würde doch
genügen. Soweit zum Allgemeinen. Und nun zu Speziellen.
Politiker nehmen vor allem die
Ost/West-Achse wahr. Sie unterscheiden vorwie-gend zwischen Rechts und Links, beispielsweise
zwischen Parteien wie DIE LINKE und AfD. Nord/Süd nehmen sie nicht so sehr zur
Kenntnis. Dabei ist Nord/Süd viel wichtiger. Das wird spätestens dann klar,
wenn Nord/Süd für reich und arm steht.
Genau das ist der Fall.
Offensichtlich fällt es
Politikern schwer zu begreifen, dass es ziemlich egal ist, ob man rechts oder
links ist. Auch Linke können reich sein und in Geld schwimmen. Und Rechte
können bettelarm sein.
Wenn das so ist – und wer will
das bestreiten? – was bedeutet das? Zunächst weist es auf die Fehlsichtigkeit
der Politiker hin. Sie haben die Nord/Süd-koordinaten übersehen. Sie sehen die
Reich/Arm-Problematik nicht.
Wenn sie das doch nur begreifen
würden! Wenn sie doch nur sehen würden, dass viele Linke wie Rechte sich
ein-und-dieselben Sorgen machen. Wenn ich Angst um meinen Job habe. Wenn ich
nicht weiß, wie ich mit meinen beiden unterbezahlten Jobs zurecht kommen soll –
dann spielen doch Links und Rechts keine Rolle. Da kann ich so Links sein, wie
es linker nicht geht, und so Rechts, dass einem schwarz vor Augen wird.
Entscheidend ist, nicht
ausgenutzt zu werden. Entscheidend ist, nicht um seine Zukunft gebracht zu
werden. Entscheidend ist, für gute Arbeit gutes Geld zu bekommen. Alles andere
regele ich dann selbst. Mehr will ich gar nicht. Dann erübrigt sich die
eintönige, die einfältige Ost/West Links/Rechts-Debatte.
19. 11. 2016
So verliert man Wahlen
Die SPD. Durchgefallen. Und das zum dritten
Mal. Erst an der Saar, dann in Schleswig-Holstein. Und nun in
Nordrhein-Westfalen. Wer etwas dreimal nicht schafft, sich nicht qualifiziert,
sucht sich im „normalen“ Leben Aufgaben, die seinen Fähigkeiten besser entsprechen.
Politik scheint in dieser Hinsicht nicht ganz normal zu sein. Dazu kann sich
eine Partei nicht entschließen. Sie müsste sich ja selbst abschaffen. Wenn es
hart auf hart kommt, besorgen das andere. Zusammengefasst: Die Fähigkeit der SPD, im Herbst
die No. 1 in der Politik zu werden, darf mit Fug und Recht bezweifelt werden.
Nicht qualifiziert. Durchgefallen eben.
Tausend Gründe schwirren durch die Gegend,
wie das passieren konnte. Dabei ist gar nichts passiert. Es wurde alles
gemacht. Der Misserfolg fiel ja schließlich nicht vom Himmel; er war
hausgemacht, am wenigsten vielleicht an der Saar. Dort kuschelt man weiter in
einer Großen Koalition als Juniorpartner.
In Schleswig-Holstein mag der fehlende
Anstand des Herrn Albig seiner Frau gegenüber eine Rolle gespielt haben. Der
wesentliche Grund für den Misserfolg, wie jetzt auch in Nordrhein-Westfalen,
dürfte eine unbedarfte Weltfremdheit sein: „Mehr Gerechtigkeit für alle.“ Ein
frommer Wunsch, von dem jeder weiß, dass er nicht zu erfüllen ist. Ein
Versprechen, das nicht zu halten ist. Auch das weiß jeder. Und jeder weiß auch,
dass die Binde, die die Augen der Justitia verhüllt, zwar die Gerechtigkeit
symbolisieren soll, in Wirklichkeit aber als Blindheit empfunden wird.
So geht es also nicht. Gerechtigkeit hat
viele Namen. Und die müssen in einem Wahlkampf auch genannt werden, wenn man
gewinnen will. Warum sind unsere Schulen in einem so schlechten Zustand? Warum
sind unsere Straßen so marode? Warum stehen wir ständig im Stau? Warum fehlt es
an Polizisten? Wir zahlen doch so viel Steuern. Wo bleibt das Geld? Wofür wird
es ausgegeben?
Kurz gesagt: Bildung, Infrastruktur,
Sicherheit sind die Themen, die wirklich als wichtig empfunden werden. Darunter
kann sich jeder etwas vorstellen. Aber unter Gerechtigkeit? Gerechtigkeit für
alle? Oder „Mehr Gerechtigkeit für alle!“, also nicht die ganze Gerechtigkeit?
Das wurde der SPD in Nordrhein-Westfalen von 74 % der Wähler aufs Butterbrot
geschmiert mit der Feststellung „Die SPD sagt nicht, was sie für soziale
Gerechtigkeit tun will.“ So verliert man Wahlen.
Samstag, Mai 13, 2017
Zwei Frauen, zwei Unternehmen, zwei Welten. Alles eine Frage des Charakters
Zwei Frauen
Nicola Leibinger-Kammüller, 57. Schwäbische Mutter von vier
Kindern, liest jeden Morgen die Bibellosung, spricht außer Schwäbisch auch
Hochdeutsch, ist Sprachwissenschaftlerin mit Doktortitel und Chefin des
Technologiekonzerns Trumpf. Geprägt durch das Unternehmen, das Unternehmen
prägend. Da ist etwas Calvinistisches im Spiel, eine gewisse Strenge, zugleich
aber viel Verpflichtung. Mitarbeiter zu achten, gehört dazu. Nicht als
Verpflichtung, sondern als Selbstverständlichkeit.
Hiltrud Werner, 50. Hat in Halle Betriebswirtschaft studiert. Daran
erinnert der Anklang an einen Dialekt, den man dort spricht. Hat lange Zeit bei
BMW gearbeitet, dann rund anderthalb Jahre beim Autozulieferer ZF. 2016 Wechsel
zu VW. Leiterin der Revision und jetzt , 2017, Vorstand für „Integrität und
Recht“. Eine Managerkarriere wie viele, und wie so viele: anstrengend. Nach
unten treten, nach oben einen Diener machen – je tiefer die Verbeugung, desto
besser.
Das mag eine böse
Verallgemeinerung sein, aber erfunden ist das nicht. Es gibt diese Methode, und
viele, die mit Hiltrud – Werner zu tun hatten, sage das sei ihre Methode
gewesen. „Jeden Mitarbeiter muss man erst mal drei Treppenstufen nach unten
treten, dann kann er sich wieder hochkämpfen.“ Das soll sie am 3. September
2014 gesagt haben. Und so soll sie ihre Arbeit beschrieben haben: „Sie werden
Mitarbeiter weinend mein Büro verlassen sehen.“
Zwei Unternehmen
Trumpf. Ein Familienunternehmen. Gegründet 1923. 2,8 Milliarden €
Umsatz im Geschäftsjahr 2015/16. Geschäftsfelder: Maschinenbau,
Lasertechnologie und Software. Weltweit aktiv. Innovativ und konservativ
zugleich. Konservativ verstanden als Zuwendung zu den Mitarbeitern, Zuwendung
zu den Kunden. Verantwortung statt Verantwortungsgefühl, auch das konservativ.
Keine hektische Quartalsberichterstattung, sondern langfristiges Denken. Keine
Shareholder-Politik. Trotzdem kommt die Familie nicht zu kurz. Weil sie alle Beteiligten
– Mitarbeiter und Kunden – am Erfolg teilnehmen lässt. Alles geregelt in einem
Familiencodex, den jedes Familienmitglied zum 16. Geburtstag erhält.
Zuverlässigkeit, Beständigkeit als Grundlage einer erfolgreichen Entwicklung,
die auch mit Krisen fertig wird.
VW. Konzern mit über 200 Milliarden € Umsatz. Jahresproduktion:
etwa 10 Millionen Kraftfahrzeuge. Die Nummer eins oder zwei weltweit. Über
600.000 Mitarbeiter an 120 Produktionsstandorten. Eine atemberaubende
Entwicklung von Anfang an – in vieler Hinsicht, bis hin ins Wortwörtliche:
Stichwort Dieselskandal. Lug und Trug, aus der Angst geboren. Ein Konzern, in
dem die „unten“, die da „oben“ und die dann die ganz „oben“ fürchteten. Ein
Regime des Schreckens. Wenn schon von Unternehmenskultur die Rede sein soll,
dann war das, dann ist das eine total versaute. Ein Ende ist nicht abzusehen.
Alle sind beteiligt. Die Shareholder, allen voran das Land Niedersachsen. Die
Gewerkschaften, der Betriebsrat, der Aufsichtsrat.
Zu schwarz gemalt? Kaum. Weshalb
hat Christine Hohmann-Dennhardt das Vorstandsressort „Integrität und Recht“
hingeschmissen? Einer erfolgreichen Arbeit stand der Leiter des Rechtswesens,
Manfred Döss, im Wege – Herr Döss, der – so sieht es aus – von Recht und
Unrecht so viel hält wie die ganze VW-Führungsmannschaft: nichts! Damit erklärt
sich sozusagen von selbst, dass Hiltrud Werner jetzt für „Integrität und Recht“
zuständig ist.
Zwei Welten
Die Unternehmen Trumpf und VW
haben das Wenigste gemeinsam. Das Wesentliche unterscheidet sie: ihr Charakter.
Das gilt auch für die beiden Frauen, die diese Unternehmen prägen bzw.
mitgestalten. Hier zeigt sich, dass nicht nur die Produkte eines Unternehmens,
sondern auch sein Charakter zum Erfolg führen – oder ihn behindern, wenn nicht
gar verhindern. Was hier kurz, aber hinreichend beschrieben ist, will den Leser
anregen, sich eine eigene Meinung zu bilden. In diesem Sinne hat der Leser jetzt
das Wort.
Montag, Mai 08, 2017
Kulturbeuteleien
Raten Sie mal, wie viele Kulturen
es gibt. Es sind genau 152. Das ist der
Stand von 2016. Ich habe seitdem nicht mehr weitergezählt. Gratiskultur, Billigkultur, Stillkultur,
Sterbekultur, Konsumkultur, Vertrauenskultur, Fehlervermeidungs-kultur sollen
es Beispiele genügen. Die Leitkultur steht auf Platz 41.
Herr Merz hat diese Kultur vor
ein paar Jahren erfunden. Gefunden kann
er sie nicht haben, denn es gab sie nicht, so wenig wie es sie heute gibt. Aber
Herr de Maizière hat sie jetzt auf Platz 1) gesetzt. Von 41 auf Platz 1,
einfach mal so – das muss man sich vorstellen!
Unser Herr Innenminister kennt
seinen Goethe offensichtlich gut: „In der Be-schränkung erst zeigt sich der
Meister.“ 10 Kapitel genügen Herrn de Maiziére. Luther brachte es auf 95
Thesen.
Die Redaktion der ZEIT notiert in
der Ausgabe vom 4. Mai noch viel mehr. Erstaunlich, was alles zu unserer
Leitkultur prägend beitragen kann. Das geht vom Schäferhund über
Currywurst und Kurzhaarfrisuren bis hin
zu den schnell-sten Kassiererinnen der Welt, von Gartenzwergen ganz zu
schweigen. Und in den Kulturbeutel gehört natürlich auch die Zahnbürste.
Endlich jetzt das Wort der Wörter: Kulturbeutel.
Typisch deutsch. Wir tragen
unsere Kultur ständig mit uns rum. Da kann der Kulturbeutel gar nicht groß
genug sein. Doof nur, dass das jeder gleich sieht und wir auch noch stolz darauf sind. Ach, Herr de
Maiziére, muss das sein?
Wir geben uns bei der Begrüßung
die Hände? Das tun andere auch. Also nicht typisch deutsch, nicht Leitkultur.
Bei Demonstrationen haben wir ein Vermummungsverbot.
"Gesicht zeigen" – das ist Ausdruck unseres demokratischen
Miteinanders, sagen Sie. Haben Sie noch nie „vermummte“ Polizisten gesehen?
„Wir sehen Bildung und Erziehung als Wert und nicht
allein als Instrument.“ Was hat das mit Leitkultur zu tun? Hebt uns das von
anderen ab?
„Wir sehen Leistung als etwas an, auf das jeder Einzelne
stolz sein kann.“ Eine kulturelle Leistung? Leitkultur?
Die Anerkennung des Existenzrechts des Staates Israel?
Das gebietet allein der Anstand.
„Wir sind Kulturnation.“ Das stimmt. Aber andere
sind das auch. Was wären wir ohne die Kultur unserer Nachbarn – Nachbarn aus
aller Welt?
„In unserem Land ist Religion Kitt und nicht Keil
der Gesellschaft.“ Hinter Religion ist ein Fragezeichen zu setzen. Eine
religiöse Gesellschaft sind wir nicht. Nur 60% aller Deutschen sollen
Mitglieder der evangelischen und der katholischen Kirche sein – auf dem Papier.
„Wir haben in
unserem Land eine Zivilkultur bei der Regelung von Konflikten.“ Mag
sein. Aber macht uns das anders? Außerdem: Bei Nachbarschafts-streitereien
kommt es immer wieder mal zu Mord und Totschlag, im wahren Sinne des Wortes.
„Wir sind aufgeklärte Patrioten. Ein aufgeklärter
Patriot liebt sein Land…“. Wirklich? Herr Heinemann, einer der Präsidenten
unserer Republik, sagte: „Ich liebe meine Frau.“ Deshalb, lieber Herr de
Maiziére, bitte nicht übertreiben. Wir sind da nicht anders als andere. Ihr
Hinweis auf die Kinderhymne von Bert Brecht – Respekt und Gratulation! Hier
haben wir etwas Besonderes. Darüber können wir uns freuen.
„Wir sind Teil des Westens. Kulturell, geistig und
politisch.“ Aber die Nato. Teil einer
deutschen Leitkultur? Nein. Sie ist Teil
einer Interessengemeinschaft.
„Wir haben ein gemeinsames kollektives Gedächtnis
für Orte und Erinnerungen. Brandenburger Tor und der 9. November sind
zum Beispiel ein Teil solcher kollektiven Erinnerungen. Oder auch der
Gewinn der Fußballweltmeisterschaften. Regionales kommt hinzu: Karneval,
Volksfeste. Die heimatliche Verwurzelung, die Marktplätze unserer
Städte. Die Verbundenheit mit Orten, Gerüchen und Traditionen. Landsmannschaftliche
Mentalitäten, die am Klang der Sprache jeder erkennt, gehören zu uns
und prägen unser Land.“
Ja. Das alles ist richtig und auch wieder nicht. Wir
sind so deutsch wie die Franzosen französisch sind, die Italiener italienisch
usw. Wir unterscheiden uns voneinander, manchmal mehr, als es uns lieb sein
kann.
Elke Schmitter hat es im SPIEGEL kurz und bündig
geschrieben: „Kultur ist, was selbstverständlich ist.“ Die Art und Weise, wie wir
leben, wie wir uns benehmen, wie wir die
Dinge sehen, woran wir glauben und woran nicht. Ein buntes Durcheinander von
gut und schlecht, richtig und falsch. So ist es mit allen Kulturen.
De Gaulle hat den Unterschied zwischen der
französischen und der deutschen „Kultur“ auf den Punkt gebracht: „Die Deutschen
lieben Frankreich, die Franzosen achten Deutschland.“ Sogar damit kann man
zurechtkommen – ganz ohne Leitkultur.
Abschließend zu Herrn de Maiziére; Die gute
Absicht führt nicht immer zu einem guten Ergebnis.