Montag, Mai 08, 2017

Kulturbeuteleien

Raten Sie mal, wie viele Kulturen es gibt. Es sind genau 152.  Das ist der Stand von 2016. Ich habe seitdem nicht mehr weitergezählt.  Gratiskultur, Billigkultur, Stillkultur, Sterbekultur, Konsumkultur, Vertrauenskultur, Fehlervermeidungs-kultur sollen es Beispiele genügen. Die Leitkultur steht auf Platz 41.

Herr Merz hat diese Kultur vor ein  paar Jahren erfunden. Gefunden kann er sie nicht haben, denn es gab sie nicht, so wenig wie es sie heute gibt. Aber Herr de Maizière hat sie jetzt auf Platz 1) gesetzt. Von 41 auf Platz 1, einfach mal so – das muss man sich vorstellen!

Unser Herr Innenminister kennt seinen Goethe offensichtlich gut: „In der Be-schränkung erst zeigt sich der Meister.“ 10 Kapitel genügen Herrn de Maiziére. Luther brachte es auf 95 Thesen.

Die Redaktion der ZEIT notiert in der Ausgabe vom 4. Mai noch viel mehr. Erstaunlich, was alles zu unserer Leitkultur prägend beitragen kann. Das geht vom Schäferhund über Currywurst  und Kurzhaarfrisuren bis hin zu den schnell-sten Kassiererinnen der Welt, von Gartenzwergen ganz zu schweigen. Und in den Kulturbeutel gehört natürlich auch die Zahnbürste. Endlich jetzt das Wort der Wörter: Kulturbeutel.

Typisch deutsch. Wir tragen unsere Kultur ständig mit uns rum. Da kann der Kulturbeutel gar nicht groß genug sein. Doof nur, dass das jeder gleich sieht und  wir auch noch stolz darauf sind. Ach, Herr de Maiziére, muss das sein?

Wir geben uns bei der Begrüßung die Hände? Das tun andere auch. Also nicht typisch deutsch, nicht Leitkultur.

 Bei De­mons­tra­tio­nen haben wir ein Ver­mum­mungs­ver­bot. "Ge­sicht zei­gen" – das ist Aus­druck un­se­res de­mo­kra­ti­schen Mit­ein­an­ders, sagen Sie. Haben Sie noch nie „vermummte“ Polizisten gesehen?

„Wir sehen Bil­dung und Er­zie­hung als Wert und nicht al­lein als In­stru­ment.“ Was hat das mit Leitkultur zu tun? Hebt uns das von anderen ab?

„Wir sehen Leis­tung als etwas an, auf das jeder Ein­zel­ne stolz sein kann.“ Eine kulturelle Leistung? Leitkultur?

Die Anerkennung des Existenzrechts des Staates Israel? Das gebietet allein der Anstand.

„Wir sind Kul­tur­na­ti­on.“ Das stimmt. Aber andere sind das auch. Was wären wir ohne die Kultur unserer Nachbarn – Nachbarn aus aller Welt?

„In un­se­rem Land ist Re­li­gi­on Kitt und nicht Keil der Ge­sell­schaft.“ Hinter Religion ist ein Fragezeichen zu setzen. Eine religiöse Gesellschaft sind wir nicht. Nur 60% aller Deutschen sollen Mitglieder der evangelischen und der katholischen Kirche sein – auf dem Papier.

 „Wir haben in un­se­rem Land eine Zi­vil­kul­tur bei der Re­ge­lung von Kon­flik­ten.“ Mag sein. Aber macht uns das anders? Außerdem: Bei Nachbarschafts-streitereien kommt es immer wieder mal zu Mord und Totschlag, im wahren Sinne des Wortes.

„Wir sind auf­ge­klär­te Pa­trio­ten. Ein auf­ge­klär­ter Pa­tri­ot liebt sein Land…“. Wirklich? Herr Heinemann, einer der Präsidenten unserer Republik, sagte: „Ich liebe meine Frau.“ Deshalb, lieber Herr de Maiziére, bitte nicht übertreiben. Wir sind da nicht anders als andere. Ihr Hinweis auf die Kinderhymne von Bert Brecht – Respekt und Gratulation! Hier haben wir etwas Besonderes. Darüber können wir uns freuen.

„Wir sind Teil des Wes­tens. Kul­tu­rell, geis­tig und po­li­tisch.“ Aber die Nato.  Teil einer deutschen Leitkultur? Nein.  Sie ist Teil einer Interessengemeinschaft.

„Wir haben ein ge­mein­sa­mes kol­lek­ti­ves Ge­dächt­nis für Orte und Er­in­ne­run­gen. Bran­den­bur­ger Tor und der 9. No­vem­ber sind zum Bei­spiel ein Teil sol­cher kol­lek­ti­ven Er­in­ne­run­gen. Oder auch der Ge­winn der Fuß­ball­welt­meis­ter­schaf­ten. Re­gio­na­les kommt hinzu: Kar­ne­val, Volks­fes­te. Die hei­mat­li­che Ver­wur­ze­lung, die Markt­plät­ze un­se­rer Städ­te. Die Ver­bun­den­heit mit Orten, Ge­rü­chen und Tra­di­tio­nen. Lands­mann­schaft­li­che Men­ta­li­tä­ten, die am Klang der Spra­che jeder er­kennt, ge­hö­ren zu uns und prä­gen unser Land.“ 

Ja. Das alles ist richtig und auch wieder nicht. Wir sind so deutsch wie die Franzosen französisch sind, die Italiener italienisch usw. Wir unterscheiden uns voneinander, manchmal mehr, als es uns lieb sein kann.

Elke Schmitter hat es im SPIEGEL kurz und bündig geschrieben: „Kultur ist, was selbstverständlich ist.“ Die Art und Weise, wie wir leben, wie wir  uns benehmen, wie wir die Dinge sehen, woran wir glauben und woran nicht. Ein buntes Durcheinander von gut und schlecht, richtig und falsch. So ist es mit allen Kulturen.

De Gaulle hat den Unterschied zwischen der französischen und der deutschen „Kultur“ auf den Punkt gebracht: „Die Deutschen lieben Frankreich, die Franzosen achten Deutschland.“ Sogar damit kann man zurechtkommen – ganz ohne Leitkultur.

Abschließend zu Herrn de Maiziére; Die gute Absicht führt nicht immer zu einem guten Ergebnis.