Montag, Oktober 01, 2018
Im Leitartikel „Steinmeiers große
Rede“ zitiert das Hamburger Abendblatt eine Aussage des Bundespräsidenten, die
ganz besonders zum Nachdenken und Handeln aufruft: „Die Verantwortung vor
unserer Geschichte kennt keine Schlussstriche.“
Alexander Gauland hatte Anfang
September in einer Rede dazu aufgerufen, einen Schlussstrich unter Deutschlands
Nazivergangenheit zu ziehen. Es ist naheliegend, dass Herr Steinmeier auch ihn
gemeint hat – aber eben nicht nur ihn. Das zu denken, wäre zu kurz gedacht. Der
Bundespräsident sprach von Schlussstrichen, er sprach nicht von einem
besonderen, auch wenn der mit gemeint war.
Es fällt nicht immer leicht, der
Wahrheit, zu der auch Unrecht gehört, ins Auge zu blicken. Deshalb ist die
Versuchung so groß, einen Schlussstrich zu ziehen. Nur: Damit ist die Sache
nicht aus der Welt. Sie lebt im Dunkel des Vergessens weiter, und wenn sie dann
ans Tageslicht kommt, wird alles noch schlimmer als es war.
Ein Beispiel, das Widerspruch
hervorrufen wird und trotzdem seine Berechtigung hat: die Entscheidung, den 3.
Oktober zum Tag der Deutschen Einheit zu erklä-ren. Einzig und allein eine
Politikerentscheidung, keine der Bürger.
Ein Schlussstrich unter einen
Staat, der seine Berechtigung verwirkt hatte. Ein Schlussstrich aber auch, der vergessen
machte – machen sollte? – dass es Leipziger Bürger waren, die 1989 Montag für
Montag auf die Straße gingen, am 9. Oktober zu 70.000-Tausenden, und so den
Fall der Mauer am 9. November ermöglichten. Die Bürger machten Politik,
friedlich und erfolgreich. Der 9. Oktober oder der 9. November, jeder dieser
beiden Tage wäre der Nationalfeiertag gewesen, den die Bürger gern gefeiert
hätten, statt ihn als nur als einen freien Tag zu sehen. Das kommt beim
Schlussstricheziehen raus. Sie schaffen das, was wir heute Fake News nennen.
Und oft ahnen wir nicht einmal, was uns verloren geht.
Weiß heute noch jemand, dass
Deutschland das einzige Land ist, das drei Natio-nalhymnen hat? Wahrscheinlich
nicht. Irgendein Schlussstrich hat das vermasselt.
Da haben wir einmal die von
August Heinrich von Fallersleben geschriebene „Deutschland, Deutschland über
alles…“. Das ist die heute gültige. Es gilt aber nur der dritte Vers,
verständlicherweise. Allein das mit „Von der Maas bis an die Memel…“ stimmt ja
nicht mehr. Und wer weiß schon, dass es von Fallersleben darum ging, dass aus
dem Flickenteppich von Kleinstkönigreichen, Herzogtümern und Grafschaften
endlich ein Deutschland, das über all dem entstehen sollte.
Dann die zweite, die der DDR,
geschrieben von Johannes R. Becher: „Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft
zugewandt, lasst uns die zum Guten dienen, Deutschland, einig Vaterland…“ Mit
jeder Zeile, die Becher geschrieben hat, könnte das heute noch unsere
Nationalhymne sein – wäre da nicht dieser Schlussstrich unter die DDR. So gut
wie nichts wurde gründlich aufgearbeitet, auch dies nicht: Seit Herr Honecker
auf die Zeile „Deutschland, einig Vaterland“ aufmerksam gemacht wurde, durfte
die DDR-Hymne nur noch ohne Text gesendet werden.
Drittens und ganz besonders
berührend: Die deutsche Kinder-Nationalhymne von Bertolt Brecht: „Anmut sparet
nicht noch Mühe… Und nicht über und nicht unter andern Völkern woll’n wir sein…
und das Liebste mag’s uns scheinen so wie andern Völkern ihrs.“
Vergessen wir nicht, dass wir mit
einem Schlussstrich nicht nur Fehler und Unangenehmes ins Vergessen schicken,
sondern auch alles Gute.
05. 10. 2017
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