Donnerstag, Mai 25, 2017

Ein Wort verliert seine Unschuld

Die Erzählung ist von Haus aus eine Literaturform, so wie die Kurzgeschichte, die Novelle, der Roman – nur ein bisschen kleiner eben und vielleicht auch etwas näher am Märchen. Was erzählt wird, muss nicht wahr sein. Nein, nicht gleich eine Lüge. Aber erfunden kann eine Erzählung schon sein.

Aber nun ist etwas Merkwürdiges passiert, genauer: Es geschieht etwas Merkwürdiges. Immer häufiger verlangen immer mehr Journalisten von den Parteien eine Erzählung, meinen aber Programme. Natürlich könnte man auf den Gedanken kommen, das sei ironisch gemeint. Schließlich liest sich so manches Parteiprogramm tatsächlich wie eine Erzählung. Nicht alles, manchmal sogar das Wenigste, ist ernst zu nehmen, hat etwas märchenhaft Beruhigendes, um den Wähler sanft in den politischen Schlaf zu reden. Aber das ist es nicht. Die Medien geben dem Wort Erzählung eine neue Bedeutung. Man könnte auch sagen, hier handelt es sich um einen Eingriff in die DNA des Wörtchens Erzählung.

Wer danach sucht, wie es dazu kam, stößt ganz schnell auf den Begriff Narrativ. Der hat eine steile Karriere hinter sich. Alles und alle Welt brauchte plötzlich ein Narrativ. Das war sozusagen über Nacht überall zu lesen. Weil das viele Menschen nicht verstanden haben, hat man sich darauf verständigt, Narrativ ins Deutsche zu übersetzen, also Erzählung. So einfach kann es gehen. Erzählung versteht jeder. Dass aber Journalisten mit Erzählung ein Programm meinen, was ja irgendetwas mit Information zu tun hat – das versteht wahrscheinlich niemand.