Wie sich die Dinge fügen: Vor einigen Tagen habe ich Elisabeth Åsbrinks
Buch „Und im Wienerwald stehen noch immer die Bäume“ zu Ende gelesen, eine
herzergreifende, herzangreifende Dokumentation zur Judenverfolgung im
„Großdeutschen Dritten Reich“ und über seine Grenzen hinaus.
Am 28. Mai 2016, im Deutschlandfunk, „Lange Nacht“ – drei Stunden Voltaire.
Voltaire war mir ein Begriff als Philosoph, weniger als Dichter, mehr als
mehrjähriger Gast des Preußenkönigs Friedrich II. – sehr oberflächlich also,
nicht unbedingt bildungsfern, aber eine wünschenswerte Nähe gab es nicht, was
mich angeht. Das ändert sich gerade. Ich lerne Voltaire besser kennen.
Als erstes begegneten mir Voltaires Zeilen über die Kirche und den
Fanatismus. Sie passen zu Åsbrinks Buch als hätte Voltaire sie dafür
geschrieben, jedenfalls zu den von mir notierten Auszügen.
Ich finde, man kann an Gott glauben. Man muss es nicht. Und viele
können es nicht. Der Glaube an Gott hat aber mit dem Christentum so gut wie
nichts zu tun. Die christliche Religion ist seit jeher des Teufels, wie der
über fast zweitausend Jahre zu dokumentierende Judenhass beweist. (siehe die Buchaus-züge Seiten 375 – 378. Das
donnernde Schlusswort hat Voltaire):
„313: In Mailand wird beschlossen, dass Juden nicht länger in Jerusalem
leben und auch nicht zum Christentum konvertieren dürfen. Heiratsverbot
zwischen Juden und Christen. Ehen wurden aufgelöst.
535, Konzil von Clermont: Den Juden wird das Recht genommen,
öffentliche Ämter innezuhaben.
538: Juden wird verboten, christliche Dienerschaft oder christliche
Sklaven zu halten. Sie können keine
Landwirtschaft mehr betreiben.
653, Konzil von Toledo: Juden müssen Vorschriften unterschreiben, die
es ihnen ummöglich machen, nach den Vorschriften der jüdischen Religion zu
leben. Zuwiderhandlungen werden durch Steinigung oder mit dem Tod auf dem
Scheiterhaufen bestraft.
654: Gesetze verbieten den Juden, Pessach zu feiern, jüdischen
Speisegesetzen zu folgen sowie nach jüdischer Sitte zu heiraten. Es ist ihnen
verboten, Christen vor Gericht zu verklagen oder gegen Christen als Zeugen
aufzutreten.
684: In Toledo wird beschlossen, jüdische Literatur zu verbrennen und
jüdische Kinder ihren Eltern wegzunehmen und zur christlichen Erziehung in ein
Kloster zu stecken.
692: Es wird befohlen, alle Juden zu Sklaven zu machen und ihnen ihr
Eigentum wegzunehmen.
722: Der oströmische Kaiser Leo III. verbietet das Judentum im gesamten
Reich, lässt Synagogen, voll mit Gläubigen, niederbrennen und ordnet
Zwangstaufe an.
829: Der französische Erzbischof behauptet, das Juden christliche
Kinder entführen und an die Araber verkaufen.
855: In der Gegend von Béziers wird in Osterpredigten aufgefordert,
sich an den Juden wegen der Kreuzigung zu rächen.
1012: Die Juden werden aus Mainz vertrieben, wenn sie sich nicht zu
Christen bekehren lassen.
1022, Rom: Nach einem Erdbeben und einem Orkan werden die Juden
angeklagt, Gottes Zorn verursacht zu haben. Sie werden verbrannt.
1078: Papst Gregor VII. legt fest, dass Juden keinerlei Amt innehaben
dürfen, durch das sie Christen übergeordnet wären.
1081: Juden müssen eine Sondersteuer an die Kirche zahlen.
1096: Kreuzritter begehen überall in Europa einen Massenmord an Juden,
die nicht zum Christentum übertreten.
1179, Konzil zu Rom: Das Zeugnis von Christen ist vor Gericht dem von
Juden vorzuziehen.
1215: Juden wird eine besondere Tracht vorgeschrieben, damit sie sich
von Christen unterscheiden.
1222: Konzil von Oxford verbietet den Bau von Synagogen.
1232: Papst Gregor IX. verbietet freundschaftliche Beziehungen zwischen
Juden und Christen.
1236: In Frankreich werden Juden, die sich nicht dem Christentum
anschließen, ermordet.
1267: In Wien werden alle Juden verpflichtet, eine besondere Tracht zu
tragen. Thomas von Aquin erklärt, dass die Juden in ständiger Unterwürfigkeit
zu leben hätten.
1279: Konzil in Ungarn untersagt Christen, Grund und Boden an Juden zu
veräußern oder zu vermieten.
1280: Die Kirche in Polen fordert, die Juden des Landes von der
restlichen Bevölkerung zu isolieren.
1306: Französische Juden werden vertrieben, ihr Eigentum beschlagnahmt.
In Sulzbach und Rufach sollen Juden das Abendmahl entweiht haben, man verbrennt
sie bei lebendigem Leibe.
1320: In Nordspanien und Südfrankreich werden mehr als einhundert
jüdische Gemeinden aufgelöst, von Christen, die fordern, dass ihre Bewohner
konvertieren.
Im 14. Jahrhundert werden Juden in ganz Europa ermordert, weil in
Predigten behauptet wird, sie hätten die Pest und den Schwarzen Tod verursacht.
1434: Konzil von Basel untersagt den Juden, einen akademischen Grad zu
erwerben.
1451: Papst Nikolaus V. verbietet den Christen den gesellschaftlichen
Umgang mit Juden.
1492: Alle Juden müssen Spanien innerhalb von drei Monaten verlassen
oder sich taufen lassen. Einige Tausend wurden auf dem Scheiterhaufen
verbrannt. 150 000 flohen. 100 000 Juden werden aus Sizilien verbannt.
1509: Kaiser Maximilian befiehlt die Vernichtung aller Schriften, die
sich gegen das Christentum richten. Jüdische Wohnungen und Synagogen werden
durchsucht, Bücher beschlagnahmt.
1538: Hetzschrift Martin Luthers „Wider die Sabbather“.
1543: Martin Luther: „Von den Juden und ihren Lügen“.
1555: Papst Paul IV. lässt eine Mauer um das jüdische Viertel in Rom
errichten. Die Bewohner dürfen das Getto zur Nachtzeit nicht verlassen.
Grunderwerb ist den Juden verboten. Die jüdischen Männer müssen einen gelben
Hut tragen, die jüdischen Frauen ein gelbes Tuch.
1685: In Frankreich wird das Judentum verboten. Der Katholizismus ist
die einzige zugelassene Religion.
1794: Die russische Zarin Katharina II. ordnet an, dass Juden eine
doppelt so hohe Steuer zahlen müssen wie Christen.
Wie teuflisch Religion, Religiosität sein kann, zeigt die Reaktion des
schwedischen Pastors Pernow auf die „Reichskristallnacht“ am 9. November 1938.
Pernow hat mitgeholfen, jüdische Kinder nach Schweden zu retten. Sein Motiv war
aber nicht so sehr eine bedingungslose Rettung. Ihm ging es vor allem um die
Christianisierung. Wichtig war ihm, aus Juden Christen zu machen. Wozu das
führte, zeigt folgender Auszug von Seite 299:
„Man kann über Morde, Selbstmorde, Misshandlungen, Folterungen und
Verwüstungen auf die unterschiedlichste Weise sprechen. Man kann viele Wörter
wählen, wenn man auf das Einsperren Zehntausender von Menschen reagiert, die
keines anderen Verbrechens beschuldigt werden als ihrer eigenen Geburt. Pastor
Pernow wählt die folgenden: ‚Nun ist
Gott am Werk.‘“
Müssen wir uns über Hitler wundern, der sechs Millionen Juden ermorden
ließ? Er hat doch nur fortgesetzt, wenn auch in größerem Maßstab, was seit
ungefähr 2000 Jahren praktiziert wurde. In diesem Sinne ist Hitler als
überzeugter Christ zu sehen, auch wenn das schwerfällt.
Wie notierte Reichspropagandaminister Joseph Goebbels in seinem
Tagebuch am 27. März 1942? „ Aus dem Generalgouvernement werden jetzt, bei
Lublin beginnend, die Juden nach dem Osten abgeschoben. Er wird hier ein
ziemlich barbarisches und nicht näher zu beschreibendes Verfahren angewandt,
und von den Juden selbst bleibt nicht mehr viel übrig. Im Großen kann man wohl
feststellen, dass 60 Prozent davon liquidiert werden müssen, während nur noch
40 Prozent in die Arbeit eingesetzt werden können. Der ehemalige Gauleiter von
Wien, der diese Aktion durchführt, tut das mit ziemlicher Umsicht und auch mit
einem Verfahren, das nicht zu auffällig wirkt.“ (Seite 310/11) Im Grunde alles
wie gehabt.
Und wirklich: Die Welt bleibt sich treu. Dafür ist der Schwede Per
Engdahl, einer der führenden schwedischen Nazis in den 30ern und 40ern bis weit
in die 1950er hinein ein inzwischen weitgehend in Vergessenheit geratenes
Beispiel. Auszug Seite 389/390:
„Im Jahr 1958 wurde Per Engdahl zum Chef der Europäischen Bewegung
ausersehen. Ingvars altes Idol erlebte seine größten Erfolge in den
Fünfzigerjahren und sah seinen Traum allmählich Wirklichkeit werden, als sich
Europas rechtsextreme Bewegungen zusammen-schlossen und an Größe zunahmen.
Als die Regierung der Bundesrepublik 1962 den Neonazismus im Land unter
die Lupe nehmen ließ, stellte sich heraus, dass der wichtigste Lieferant von
gedruckter Propaganda für die deutschen Nazis das Land Schweden war, und als
eine Schlüsselfigur im internationlen Netzwerk der Faschisten wurde Per Engdahl
genannt.
Später lancierte er den Gedanken, dass die europäischen Rechtsextremen
die Anwendung des besudelten Begriffs
‚Rasse‘ unterlassen sollten, wenn sie Einwanderung und Minoritäten bekämpfen
wollten. Stattdessen sollten sie von ‚Kultur‘ reden:
‚Eine Einwanderung, die bedeutende Minoritäten mit eigenen Strukturen
schafft, stellt stets eine Bedrohung der Existenz eines Volkes dar und damit
auch der Kultur, die sie repräsentiert.“
Was die AfD in Deutschland, was Marie LePen in Frankreich, Herr Wilders
in den Nieder-landen, was die Regierungen Polens, Tschechiens, Ungarns und
schließlich auch Deutschlands zurzeit sagen und treiben, ist also nicht neu. Es
ist beängstigend.
Nun ist Angst ein schlechter Ratgeber. Was aber tun? Am Verstand der
Menschheit verzweifeln genügt nicht. Wie aber sind wir zur Vernunft zu bringen?
Ob es mit etwas mehr Herz gelingt? Und wie sollen wir das anfangen?
Und nun Voltaire über die Kirche und
religiösen Fanatismus:
"Wenn es feststeht, dass die Geschichte der Kirche eine ununterbrochene
Folge von Konflikten, Verleumdungen, Torturen, Betrügereien, Rauben und Morden
ist, dann ist damit erwiesen, dass jene Ausschreitungen in der Sache selbst
begründet sind, ebenso wie erwiesen ist, dass der Wolf immer ein Raubtier war
und dass es sich keineswegs um vorübergehende Ausschreitungen handelt, wenn er
unsere Schafe reißt." (Das Diner beim Grafen Boulainvilliers)
"Was für ein Netz von Betrügereien, Verleumdungen, Schurkereien haben die
Fanatiker der römischen Kurie gegen die Fanatiker Calvins, die Jesuiten gegen
die Jansenisten gesponnen, et vicissim! Gehen wir weiter zurück, so erweist
sich die Kirchengeschichte nicht nur als eine Schule der Tugend, sondern auch
als eine Schule der Ruchlosigkeit in den Beziehungen der Sekten untereinander.
Sie tragen alle die gleiche Binde vor den Augen, ob es nun darum geht, die
Städte und Dörfer ihrer Gegner in Brand zu stecken und die Einwohner zu
erwürgen oder zu foltern, oder ganz einfach darum, zu betrügen, sich zu
bereichern und zum Herrn aufzuwerfen. Der Fanatismus macht sie blind, sie
glauben, recht zu tun. Alle Fanatiker sind Schurken mit gutem Gewissen und
morden in gutem Glauben an eine gute Sache." (Über die Toleranz)
"Die Religion ist keine bekömmliche Nahrung für solche verseuchten Seelen;
in den infizierten Gehirnen wird sie zum Gift. Solche Leute sind überzeugt,
dass der Geist, von dem sie besessen sind, über den Gesetzen steht (…). Was
soll man einem Menschen entgegenhalten, der sagt, er wolle lieber Gott als den
Menschen gehorchen, und daher überzeugt ist, in den Himmel zu kommen, wenn er
einem den Hals abschneidet?" (Über die Toleranz)
"Der Rat Dubourg, der Domherr Chauvin, genannt Calvin, der spanische Arzt
Servet, der Calabrese Gentilis dienten demselben Gott. Dennoch ließ der
Präsident Minard den Rat Dubourg hängen; und die Freunde Dubourgs ließen Minard
ermorden; und Jean Calvin ließ den Arzt Servet auf dem Scheiterhaufen
verbrennen und hatte den Trost, viel dazu beigetragen zu haben, dass dem
Calabresen Gentilis der Kopf abgeschlagen wurde; und die Nachfolger Calvins
ließen Antonius verbrennen. Sind Vernunft, Gottesfurcht und Gerechtigkeit schuld
an diesen Morden?"