Montag, Mai 30, 2016

Von der Gottlosigkeit


Wie sich die Dinge fügen: Vor einigen Tagen habe ich Elisabeth Åsbrinks Buch „Und im Wienerwald stehen noch immer die Bäume“ zu Ende gelesen, eine herzergreifende, herzangreifende Dokumentation zur Judenverfolgung im „Großdeutschen Dritten Reich“ und über seine Grenzen hinaus.

Am 28. Mai 2016, im Deutschlandfunk, „Lange Nacht“ – drei Stunden Voltaire. Voltaire war mir ein Begriff als Philosoph, weniger als Dichter, mehr als mehrjähriger Gast des Preußenkönigs Friedrich II. – sehr oberflächlich also, nicht unbedingt bildungsfern, aber eine wünschenswerte Nähe gab es nicht, was mich angeht. Das ändert sich gerade. Ich lerne Voltaire besser kennen.

Als erstes begegneten mir Voltaires Zeilen über die Kirche und den Fanatismus. Sie passen zu Åsbrinks Buch als hätte Voltaire sie dafür geschrieben, jedenfalls zu den von mir notierten Auszügen.

Ich finde, man kann an Gott glauben. Man muss es nicht. Und viele können es nicht. Der Glaube an Gott hat aber mit dem Christentum so gut wie nichts zu tun. Die christliche Religion ist seit jeher des Teufels, wie der über fast zweitausend Jahre zu dokumentierende Judenhass beweist.  (siehe die Buchaus-züge Seiten 375 – 378. Das donnernde Schlusswort hat Voltaire):

„313: In Mailand wird beschlossen, dass Juden nicht länger in Jerusalem leben und auch nicht zum Christentum konvertieren dürfen. Heiratsverbot zwischen Juden und Christen. Ehen wurden aufgelöst.

535, Konzil von Clermont: Den Juden wird das Recht genommen, öffentliche Ämter innezuhaben.

538: Juden wird verboten, christliche Dienerschaft oder christliche Sklaven zu halten.  Sie können keine Landwirtschaft mehr betreiben.

653, Konzil von Toledo: Juden müssen Vorschriften unterschreiben, die es ihnen ummöglich machen, nach den Vorschriften der jüdischen Religion zu leben. Zuwiderhandlungen werden durch Steinigung oder mit dem Tod auf dem Scheiterhaufen bestraft.

654: Gesetze verbieten den Juden, Pessach zu feiern, jüdischen Speisegesetzen zu folgen sowie nach jüdischer Sitte zu heiraten. Es ist ihnen verboten, Christen vor Gericht zu verklagen oder gegen Christen als Zeugen aufzutreten.

684: In Toledo wird beschlossen, jüdische Literatur zu verbrennen und jüdische Kinder ihren Eltern wegzunehmen und zur christlichen Erziehung in ein Kloster zu stecken.

692: Es wird befohlen, alle Juden zu Sklaven zu machen und ihnen ihr Eigentum wegzunehmen.

722: Der oströmische Kaiser Leo III. verbietet das Judentum im gesamten Reich, lässt Synagogen, voll mit Gläubigen, niederbrennen und ordnet Zwangstaufe an.

829: Der französische Erzbischof behauptet, das Juden christliche Kinder entführen und an die Araber verkaufen.

855: In der Gegend von Béziers wird in Osterpredigten aufgefordert, sich an den Juden wegen der Kreuzigung zu rächen.

1012: Die Juden werden aus Mainz vertrieben, wenn sie sich nicht zu Christen bekehren lassen.

1022, Rom: Nach einem Erdbeben und einem Orkan werden die Juden angeklagt, Gottes Zorn verursacht zu haben. Sie werden verbrannt.

1078: Papst Gregor VII. legt fest, dass Juden keinerlei Amt innehaben dürfen, durch das sie Christen übergeordnet wären.

1081: Juden müssen eine Sondersteuer an die Kirche zahlen.

1096: Kreuzritter begehen überall in Europa einen Massenmord an Juden, die nicht zum Christentum übertreten.

1179, Konzil zu Rom: Das Zeugnis von Christen ist vor Gericht dem von Juden vorzuziehen.

1215: Juden wird eine besondere Tracht vorgeschrieben, damit sie sich von Christen unterscheiden.

1222: Konzil von Oxford verbietet den Bau von Synagogen.

1232: Papst Gregor IX. verbietet freundschaftliche Beziehungen zwischen Juden und Christen.

1236: In Frankreich werden Juden, die sich nicht dem Christentum anschließen, ermordet.

1267: In Wien werden alle Juden verpflichtet, eine besondere Tracht zu tragen. Thomas von Aquin erklärt, dass die Juden in ständiger Unterwürfigkeit zu leben hätten.

1279: Konzil in Ungarn untersagt Christen, Grund und Boden an Juden zu veräußern oder zu vermieten.

1280: Die Kirche in Polen fordert, die Juden des Landes von der restlichen Bevölkerung zu isolieren.

1306: Französische Juden werden vertrieben, ihr Eigentum beschlagnahmt. In Sulzbach und Rufach sollen Juden das Abendmahl entweiht haben, man verbrennt sie  bei lebendigem Leibe.

1320: In Nordspanien und Südfrankreich werden mehr als einhundert jüdische Gemeinden aufgelöst, von Christen, die fordern, dass ihre Bewohner konvertieren.

Im 14. Jahrhundert werden Juden in ganz Europa ermordert, weil in Predigten behauptet wird, sie hätten die Pest und den Schwarzen Tod verursacht.

1434: Konzil von Basel untersagt den Juden, einen akademischen Grad zu erwerben.

1451: Papst Nikolaus V. verbietet den Christen den gesellschaftlichen Umgang mit Juden.

1492: Alle Juden müssen Spanien innerhalb von drei Monaten verlassen oder sich taufen lassen. Einige Tausend wurden auf dem Scheiterhaufen verbrannt. 150 000 flohen. 100 000 Juden werden aus Sizilien verbannt.

1509: Kaiser Maximilian befiehlt die Vernichtung aller Schriften, die sich gegen das Christentum richten. Jüdische Wohnungen und Synagogen werden durchsucht, Bücher beschlagnahmt.

1538: Hetzschrift Martin Luthers „Wider die Sabbather“.

1543: Martin Luther: „Von den Juden und ihren Lügen“.

1555: Papst Paul IV. lässt eine Mauer um das jüdische Viertel in Rom errichten. Die Bewohner dürfen das Getto zur Nachtzeit nicht verlassen. Grunderwerb ist den Juden verboten. Die jüdischen Männer müssen einen gelben Hut tragen, die jüdischen Frauen ein gelbes Tuch.

1685: In Frankreich wird das Judentum verboten. Der Katholizismus ist die einzige zugelassene Religion.

1794: Die russische Zarin Katharina II. ordnet an, dass Juden eine doppelt so hohe Steuer zahlen müssen wie Christen.

Wie teuflisch Religion, Religiosität sein kann, zeigt die Reaktion des schwedischen Pastors Pernow auf die „Reichskristallnacht“ am 9. November 1938. Pernow hat mitgeholfen, jüdische Kinder nach Schweden zu retten. Sein Motiv war aber nicht so sehr eine bedingungslose Rettung. Ihm ging es vor allem um die Christianisierung. Wichtig war ihm, aus Juden Christen zu machen. Wozu das führte, zeigt folgender Auszug von Seite 299:

„Man kann über Morde, Selbstmorde, Misshandlungen, Folterungen und Verwüstungen auf die unterschiedlichste Weise sprechen. Man kann viele Wörter wählen, wenn man auf das Einsperren Zehntausender von Menschen reagiert, die keines anderen Verbrechens beschuldigt werden als ihrer eigenen Geburt. Pastor Pernow wählt die folgenden: ‚Nun ist Gott am Werk.‘“

Müssen wir uns über Hitler wundern, der sechs Millionen Juden ermorden ließ? Er hat doch nur fortgesetzt, wenn auch in größerem Maßstab, was seit ungefähr 2000 Jahren praktiziert wurde. In diesem Sinne ist Hitler als überzeugter Christ zu sehen, auch wenn das schwerfällt.

Wie notierte Reichspropagandaminister Joseph Goebbels in seinem Tagebuch am 27. März 1942? „ Aus dem Generalgouvernement werden jetzt, bei Lublin beginnend, die Juden nach dem Osten abgeschoben. Er wird hier ein ziemlich barbarisches und nicht näher zu beschreibendes Verfahren angewandt, und von den Juden selbst bleibt nicht mehr viel übrig. Im Großen kann man wohl feststellen, dass 60 Prozent davon liquidiert werden müssen, während nur noch 40 Prozent in die Arbeit eingesetzt werden können. Der ehemalige Gauleiter von Wien, der diese Aktion durchführt, tut das mit ziemlicher Umsicht und auch mit einem Verfahren, das nicht zu auffällig wirkt.“ (Seite 310/11) Im Grunde alles wie gehabt.

Und wirklich: Die Welt bleibt sich treu. Dafür ist der Schwede Per Engdahl, einer der führenden schwedischen Nazis in den 30ern und 40ern bis weit in die 1950er hinein ein inzwischen weitgehend in Vergessenheit geratenes Beispiel. Auszug Seite 389/390:

„Im Jahr 1958 wurde Per Engdahl zum Chef der Europäischen Bewegung ausersehen. Ingvars altes Idol erlebte seine größten Erfolge in den Fünfzigerjahren und sah seinen Traum allmählich Wirklichkeit werden, als sich Europas rechtsextreme Bewegungen zusammen-schlossen und an Größe zunahmen.

Als die Regierung der Bundesrepublik 1962 den Neonazismus im Land unter die Lupe nehmen ließ, stellte sich heraus, dass der wichtigste Lieferant von gedruckter Propaganda für die deutschen Nazis das Land Schweden war, und als eine Schlüsselfigur im internationlen Netzwerk der Faschisten wurde Per Engdahl genannt.

Später lancierte er den Gedanken, dass die europäischen Rechtsextremen die Anwendung des  besudelten Begriffs ‚Rasse‘ unterlassen sollten, wenn sie Einwanderung und Minoritäten bekämpfen wollten. Stattdessen sollten sie von ‚Kultur‘ reden:

‚Eine Einwanderung, die bedeutende Minoritäten mit eigenen Strukturen schafft, stellt stets eine Bedrohung der Existenz eines Volkes dar und damit auch der Kultur, die sie repräsentiert.“

Was die AfD in Deutschland, was Marie LePen in Frankreich, Herr Wilders in den Nieder-landen, was die Regierungen Polens, Tschechiens, Ungarns und schließlich auch Deutschlands zurzeit sagen und treiben, ist also nicht neu. Es ist beängstigend.

Nun ist Angst ein schlechter Ratgeber. Was aber tun? Am Verstand der Menschheit verzweifeln genügt nicht. Wie aber sind wir zur Vernunft zu bringen? Ob es mit etwas mehr Herz gelingt? Und wie sollen wir das anfangen?

Und nun Voltaire über die Kirche und religiösen Fanatismus:

"Wenn es feststeht, dass die Geschichte der Kirche eine ununterbrochene Folge von Konflikten, Verleumdungen, Torturen, Betrügereien, Rauben und Morden ist, dann ist damit erwiesen, dass jene Ausschreitungen in der Sache selbst begründet sind, ebenso wie erwiesen ist, dass der Wolf immer ein Raubtier war und dass es sich keineswegs um vorübergehende Ausschreitungen handelt, wenn er unsere Schafe reißt." (Das Diner beim Grafen Boulainvilliers)

"Was für ein Netz von Betrügereien, Verleumdungen, Schurkereien haben die Fanatiker der römischen Kurie gegen die Fanatiker Calvins, die Jesuiten gegen die Jansenisten gesponnen, et vicissim! Gehen wir weiter zurück, so erweist sich die Kirchengeschichte nicht nur als eine Schule der Tugend, sondern auch als eine Schule der Ruchlosigkeit in den Beziehungen der Sekten untereinander. Sie tragen alle die gleiche Binde vor den Augen, ob es nun darum geht, die Städte und Dörfer ihrer Gegner in Brand zu stecken und die Einwohner zu erwürgen oder zu foltern, oder ganz einfach darum, zu betrügen, sich zu bereichern und zum Herrn aufzuwerfen. Der Fanatismus macht sie blind, sie glauben, recht zu tun. Alle Fanatiker sind Schurken mit gutem Gewissen und morden in gutem Glauben an eine gute Sache." (Über die Toleranz)

"Die Religion ist keine bekömmliche Nahrung für solche verseuchten Seelen; in den infizierten Gehirnen wird sie zum Gift. Solche Leute sind überzeugt, dass der Geist, von dem sie besessen sind, über den Gesetzen steht (…). Was soll man einem Menschen entgegenhalten, der sagt, er wolle lieber Gott als den Menschen gehorchen, und daher überzeugt ist, in den Himmel zu kommen, wenn er einem den Hals abschneidet?" (Über die Toleranz)

"Der Rat Dubourg, der Domherr Chauvin, genannt Calvin, der spanische Arzt Servet, der Calabrese Gentilis dienten demselben Gott. Dennoch ließ der Präsident Minard den Rat Dubourg hängen; und die Freunde Dubourgs ließen Minard ermorden; und Jean Calvin ließ den Arzt Servet auf dem Scheiterhaufen verbrennen und hatte den Trost, viel dazu beigetragen zu haben, dass dem Calabresen Gentilis der Kopf abgeschlagen wurde; und die Nachfolger Calvins ließen Antonius verbrennen. Sind Vernunft, Gottesfurcht und Gerechtigkeit schuld an diesen Morden?"


Hysterie und Feigheit


In einem Interview mit der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ hat Alexander Gauland, Vorstandsvize der AfD, den Fußball-spieler Boateng wie folgte erwähnt: „Die Leute finden ihn als Fußballspieler gut. Aber sie wollen einen Boateng nicht als Nachbarn haben.“

Alle möglichen Leute schrieen empört auf, und Frauke Petry, Vorstands-vorsitzende der AfD, entschuldigte sich auch noch für den Eindruck, der dadurch entstanden ist. Sie entschuldigt sich für den Eindruck? Das ist doch blanker Unfug. Das geht doch gar nicht. Bitte erst denken, dann reden!

Hysterie auf allen Seiten. Herr Gauland hat – wenn er richtig von der FAS zitiert wurde  - Jérôme Boateng weder rassistisch noch sonstwie beleidigt. Er hat diejenigen kritisiert, die Boateng nur als Fußballspieler akzeptieren. Und das ist etwas ganz anderes. Auch hier: Bitte erst denken, dann reden! Damit zum nächsten Thema: Feigheit.

Sigmar Gabriel, SPD-Chef wirft der AfD vor, sie sei „zu feige, sich mit den wirklich Mächtigen anzulegen.“ Zitat (SPIEGEL ONLINE, 29. Mai 2016): „Wenn es am Geld fehlt, um Schulen zu sanieren, anständige Renten auszuzahlen und mehr Polizisten einzustellen, dann liegt das nicht an der Zuwanderung oder an Muslimen, sondern beispielsweise an der Steuerhinterziehung von jährlich 150 Milliarden Euro.“ Sieh mal einer an! Gerade weil ich von der AfD und ihrem Geschwafel nichts halte, kann ich mir ein paar an Herrn Gabriel gerichtete Worte nicht verkneifen.

Lieber Herr, wer ist denn der Feigling? Wer hat denn eine 80-Prozentmehrheit im Bundestag? Wer könnte denn nicht nur etwas, sondern das Richtige gegen Steuerhinterziehung tun? Wer könnte durchgreifen und traut sich nicht? Die Große Koalition.

Wie gehorsam sie dem Diktat der Wirtschaft folgt, zeigen tausend Beispiele. Wer arbeitet, muss 50 Prozent seines Entgelts für Steuern und Abgaben auf den Tisch legen. Ach was, die Hälfte wird ihm einfach vorenthalten, er bekommt sie nicht mal auf seinen Tisch. Kapitalerträge werden mit 25 Prozent besteuert. Bei diesen „Erträgen“ handelt es sich um Geld, das durch Geld produziert wird, Keiner macht dafür einen Finger krumm, es sei denn beim Zählen seiner Aktien.

PS: Bevor AfD-Anhänger etwas falsch verstehen und jetzt in die Hände klatschen: Dies ist kein Plädoyer für die AfD. Eins allerdings hat die Partei der Möchtegerne, die alles besser wissen und uns eine einfache Welt zimmern wollen – eins hat sie fertiggebracht: Sie hat alle anderen Parteien aus ihrem Tiefschlaf geweckt. Nun reiben sie sich alle die Augen. Mehr allerdings ist bisher nicht passiert.

Montag, Mai 09, 2016

Wo bleibt der Mumm. Oder. Ein Timmermann allein genügt nicht.


EU-Kommissar Frans Timmermann hat in seinem Gespräch mit den ZEIT-Redakteuren Matthias Krupa und Ulrich Ladurner (Ausgabe 19, 28. April 2016, Seite 8) so klare Worte gefunden, wie wir sie von Politikern kaum noch gewohnt sind. Und was er sagt, das sagt er so einfach, dass man es auf Anhieb versteht. Kein Politiker-Welsch. Auch das eine Seltenheit. Das, was mir wichtig war, habe ich hier Notiert.

Zum Eindruck vieler Menschen, dass es keinen Fortschritt mehr geben wird, sagt Timmermann: „Hinzu kommt  ein fundamentaler Selbstzweifel, der sich breitgemacht hat. Eine Wurzel dafür ist der Irak-Krieg. Dieser Krieg war eine Reaktion auf die Anschläge vom 11. September, und wir, voran die Amerikaner, haben ihn mit einer Lüge begründet. Aus Angst vor dem Terrorismus haben wir mit unseren Werten gespielt, das hat Rückwirkungen auf unser Selbstbild.“

Timmermanns, der nahe der deutschen Grenze lebt, fährt mit seiner Familie häufiger mit dem Fahrrad nach Aachen. Als er einmal mit seiner jüngsten Tochter, sie war damals 7, unterwegs war, erzählte er von der Siegfriedlinie, von der Grenze. Seine Tochter sah ihn mit großen Augen an auf fragte: „Papa, was ist das, eine Grenze?“

Timmermanns weiter: „Wissen Sie, in dem Haus, in dem wir wohnen, wurden im Zweiten Weltkrieg Juden versteckt. In unserer Straße haben Deutsche Niederländer erschossen. Und heute, 70 Jahre später, fragt meine Tochter, was eine Grenze ist. Das ist so schön! Das schmeißt man doch nicht einfach weg.“

Zur Frage, wie man dem wachsenden Misstrauen begegnet: „Es würde schon helfen, wenn wir Politiker gelegentlich einräumen würden, dass wir auch nicht auf alle Fragen eine Antwort haben. Wir glauben, dass wir die Pflicht haben, eine hermetische Welt anzubieten. Aber so sieht die Welt nicht aus, und die Menschen wissen das. Eine postpaternalistische Politik muss genau formulieren, was Politik leisten kann und wo die Grenzen sind.“

Frage: Was bedeutet das für die EU?

„Die EU muss bescheidener werden. Wir müssen uns auf ein paar wichtige Fragen konzentrieren, die wir nur gemeinsam lösen können. Die Flüchtlingskrise gehört dazu oder die Energieversorgung, der digitale Binnenmarkt. Bei diesen Themen müssen wir in der Lage sein, greifbare Ergebnisse zu liefern. Das ist unser Ansatz als Juncker-Kommission. In der Vergangenheit hat die EU alles Mögliche versprochen. Und wenn das dann nicht geklappt hat, hat sie noch mehr versprochen. Mit diesem Unsinn müssen wir aufhören.“

Zur Frage nach der europäischen Zukunft:

„Wir müssen das Potenzial der neuen industriellen Revolution ausschöpfen, etwa durch die Energiewende und die digitale Transformation, um eine lohnende Zukunft für die Mittelklasse zu ermöglichen. Einige Aspekte dieser Veränderungen scheinen vielleicht bedrohlich, aber wenn wir uns darauf einlassen, liegen hier auch gewaltige Chancen. Und ich bin überzeugt, dass Europa der Kontinent ist, in dem die Welt sich treffen kann. Wir können der Welt zeigen, dass man Vielfalt nicht nur verkraften kann, sondern dass man mit ihrer Hilfe eine bessere Gesellschaft schaffen kann. Ganz klassisch: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – diesen Dreiklang müssen wir für das 21. Jahrhundert neu erfinden. Das kann nur Europa! Allerdings müssen wir hierfür wieder Vertrauen zueinander finden….

Die Institutionen müssen bescheidener werden, nicht wir Menschen. Wir sind zu unbescheiden, wenn es um Institutionen geht. Wir sind zu bescheiden, wenn es um unsere Träume geht. Europa muss wieder anfangen zu träumen.“

Jetzt frage ich mich: Wo bleiben die Timmermanns? Einer allein genügt nicht. Wir brauchen viele davon. Wenn es nicht schon so schrecklich verbraucht wäre, könnte es heißen „je suis Timmermann.“ Wir könnten auch fragen, wie in einer alten Fernsehwerbung: „Wo bleibt der Mumm?“ Nicht der Sekt, sondern unsere Entschiedenheit. Wo bleibt unser Mumm?







Dienstag, Mai 03, 2016

Wissenschaftlerdeutsch

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Ja, auch dieses Deutsch gibt es – neben Hochdeutsch, Nieder-deutsch,  Plattdeutsch und allen möglichen Dialekten: Alles sozusagen Normalfälle. Normal, weil so im Allgemeinen gesprochen und geschrieben wird – verständlich. Man versteht, was gemeint ist.

Diese Eigenschaft, dieser Vorzug fehlt dem Wissenschaftlerdeutsch überwiegend ebenso wie dem Politiker- und dem Managerdeutsch. Hier herrschen offenbar andere Regeln. Es scheint weniger um Verständlichkeit zu gehen, sondern mehr darum, dem Leser die Bedeutung des Autors unter die Nase zu reiben. Umständliche Formulierungen sind ein beliebtes Mittel, diese Wirkung zu erzielen.

Der Bildungsforscher Heinz Holtappels zeigt in einem Gespräch in Deutschlandradio Kultur – es geht um eine Studie zu Ganztagsschulen –  wie das geht: „… und das ergibt in der Gemengelage  am Ende einen Nichtteffekt.“ Das ergibt einen Nichteffekt! Einfach gesagt: Das führt zu nichts.

Herr Holtappels spricht auch von Lernzuwächsen. Lernzuwächse! Er meint: Die Kinder lernen mehr.

Wer um Himmelswillen bringt den Wissenschaftlern dieses „unmögliche“ Deutsch bei? Es ist den Herren und Damen genauso wenig auszutreiben wie den Autofahrern die Unsitte, ihre Autos halb auf der Straße und halb auf dem Fuß- und Radweg zu parken. Fußgänger und Radler werden belästigt, Autofahrer kommen bei Gegenverkehr an dem halb auf der Straße geparkten Wagen genau so wenig vorbei wie an einem korrekt auf der Straße abgestellten Fahrzeug.

Das einfache Leben und seine Irrtümer


Selbst in den kleinsten Dörfern war und ist das Zusammenleben nicht einfach. Sogar in der Familie kann das sehr, sehr schwierig sein. Ganze Schriftstellergenerationen leben davon. Kein Wunder, dass das „Weltgeschehen“ uns verwirrt, dass wir einfach nicht mehr durchblicken, ratlos sind und wütend werden, weil wir uns so dumm vorkommen. 

Was machen wir da um aus diesem Schlamassel herauszukommen? Auch wenn es schwerfällt, es zu glauben. Wir wünschen uns die Sachen einfacher als sie sind. Wir verkleinern alles auf schwarz und weiß, auf links und rechts, auf oben und unten. Alles, was dazwischen liegt, wischen wir beiseite. Es würde uns nur unsicher machen. Und wir würden uns überhaupt nicht mehr zurechtfinden. Die Versuchung ist groß, aber wir sollten ihr nicht nachgeben.

Sehen wir uns die Sache einmal genauer an. Wie finden wir Amerika, die USA, heute und wie Russland? Anders als gestern? Immer öfter ist zu lesen und zu hören, dass die USA scheiße sind. Die Irak-Lüge, Guantanamo, die ganze 9/11-Hysterie, der Weltherrschaftswahn, die Behauptung, die Demokratie nach Deutschland gebracht zu haben (tatsächlich wurde sie „nur“ wiederbelebt). Die Raffgier der Konzerne, die Dominanz der Wirtschaft. Money, money, money; the winner takes it all. Alles andere wird vergessen. Und wenn nicht vergessen – schlimmer noch: nicht erwähnt.

Und Russland? Ach, die Russen sind uns seelisch viel näher. Dostojewski, Puschkin und alle die anderen. Warum sollten wir die Russen fürchten? Die Rote Armee in Deutschland – eine Episode. Vergeben, vergessen. Die Demokratie funktioniert in Russland nicht? Wo funktioniert sie? Russland – eine Bedrohung? So sehen viele Russland heute. Lächerlich.  

Das sind die Schwarz/weiß-Bilder. Sie machen uns das Leben leicht? Sie machen es uns schwer. Sie verführen uns, Vorurteile wie Urteile zu sehen. Zum Schluss sind wir blind für die vielen kleinen Wahrheiten, mit denen wir umgehen sollten anstatt uns selbst mit unseren Vorurteilen reinzulegen.

Sonntag, Mai 01, 2016

Streik!


Erst das Unternehmen in eine existenzbedrohende Krise führen und dann auf der Zahlung von Boni in Millionenhöhe bestehen – „Ich habe dafür kein Verständnis“, sagt Wolfgang Schäuble. Ich auch nicht. Die Rede ist von VW. Und dann die Renten!

28,6 Millionen € werden Herrn Winterkorn garantiert, 22,6 Millionen dem jetzigen Vorstandsvorsitzenden Matthias Müller, und so geht es – bei VW – weiter: Horst Neumann: 23,6 Millionen, Hans Dieter Pötsch: 20,9 Millionen, Jochem Heizmann: 18,0 Millionen und Francisco Garcia Sanz: 17,6 Millionen. Das macht zusammen rund 131 Millionen €. Dafür müssen die Wolfsburger Arbeiter lange arbeiten.

Fast fehlen einem bei so viel Gier, so viel Rücksichtslosigkeit, bei so viel Unverschämtheit die Worte. Tatsächlich genügt ein Wort, ein einziges Wort: Streik.

Warum schweigen die VW-Mitarbeiter dazu? Warum schmeißen sie die Klamotten nicht hin? Warum streiken sie nicht – so lange, bis wenigstens ein Anflug von Vernunft und Anstand in Vorstand und Aufsichtsrat eingekehrt ist.

Dieser Streik wäre nicht erlaubt, weil politisch? Bei uns darf nur gestreikt werden, wenn es um Tarifauseinandersetzungen geht, nicht aus politischen Grün-den. Richtig. Aber hier geht es nicht um Politik. Hier geht es die Angemessenheit von Entgelten und Renten, also um Einkommen. Und wenn hier vielleicht wirklich ein bisschen Politik hineinspielen sollte, dann ist das zu vernachlässigen.

Warum also wird in Wolfsburg nicht gestreikt?

Gemeines Postscriptum: Sollte der Betriebsratsvorsitzende Osterloh als Mitglied des Aufsichtsrats ähnliche Vergünstigungen erhalten wie die Vorstandsmitglieder und  Herr Pötsch, seit Kurzem VW-Aufsichtsratsvorsitzender? Kaum vorstellbar. Sollte es so sein – wie wäre es dann mit einer Namensänderung in Osterkorn? Die Ähnlichkeit mit dem Namen Winterkorn wäre nicht nur zufällig. Aber so weit will ich dann doch nicht gehen.