Montag, Mai 09, 2016

Wo bleibt der Mumm. Oder. Ein Timmermann allein genügt nicht.


EU-Kommissar Frans Timmermann hat in seinem Gespräch mit den ZEIT-Redakteuren Matthias Krupa und Ulrich Ladurner (Ausgabe 19, 28. April 2016, Seite 8) so klare Worte gefunden, wie wir sie von Politikern kaum noch gewohnt sind. Und was er sagt, das sagt er so einfach, dass man es auf Anhieb versteht. Kein Politiker-Welsch. Auch das eine Seltenheit. Das, was mir wichtig war, habe ich hier Notiert.

Zum Eindruck vieler Menschen, dass es keinen Fortschritt mehr geben wird, sagt Timmermann: „Hinzu kommt  ein fundamentaler Selbstzweifel, der sich breitgemacht hat. Eine Wurzel dafür ist der Irak-Krieg. Dieser Krieg war eine Reaktion auf die Anschläge vom 11. September, und wir, voran die Amerikaner, haben ihn mit einer Lüge begründet. Aus Angst vor dem Terrorismus haben wir mit unseren Werten gespielt, das hat Rückwirkungen auf unser Selbstbild.“

Timmermanns, der nahe der deutschen Grenze lebt, fährt mit seiner Familie häufiger mit dem Fahrrad nach Aachen. Als er einmal mit seiner jüngsten Tochter, sie war damals 7, unterwegs war, erzählte er von der Siegfriedlinie, von der Grenze. Seine Tochter sah ihn mit großen Augen an auf fragte: „Papa, was ist das, eine Grenze?“

Timmermanns weiter: „Wissen Sie, in dem Haus, in dem wir wohnen, wurden im Zweiten Weltkrieg Juden versteckt. In unserer Straße haben Deutsche Niederländer erschossen. Und heute, 70 Jahre später, fragt meine Tochter, was eine Grenze ist. Das ist so schön! Das schmeißt man doch nicht einfach weg.“

Zur Frage, wie man dem wachsenden Misstrauen begegnet: „Es würde schon helfen, wenn wir Politiker gelegentlich einräumen würden, dass wir auch nicht auf alle Fragen eine Antwort haben. Wir glauben, dass wir die Pflicht haben, eine hermetische Welt anzubieten. Aber so sieht die Welt nicht aus, und die Menschen wissen das. Eine postpaternalistische Politik muss genau formulieren, was Politik leisten kann und wo die Grenzen sind.“

Frage: Was bedeutet das für die EU?

„Die EU muss bescheidener werden. Wir müssen uns auf ein paar wichtige Fragen konzentrieren, die wir nur gemeinsam lösen können. Die Flüchtlingskrise gehört dazu oder die Energieversorgung, der digitale Binnenmarkt. Bei diesen Themen müssen wir in der Lage sein, greifbare Ergebnisse zu liefern. Das ist unser Ansatz als Juncker-Kommission. In der Vergangenheit hat die EU alles Mögliche versprochen. Und wenn das dann nicht geklappt hat, hat sie noch mehr versprochen. Mit diesem Unsinn müssen wir aufhören.“

Zur Frage nach der europäischen Zukunft:

„Wir müssen das Potenzial der neuen industriellen Revolution ausschöpfen, etwa durch die Energiewende und die digitale Transformation, um eine lohnende Zukunft für die Mittelklasse zu ermöglichen. Einige Aspekte dieser Veränderungen scheinen vielleicht bedrohlich, aber wenn wir uns darauf einlassen, liegen hier auch gewaltige Chancen. Und ich bin überzeugt, dass Europa der Kontinent ist, in dem die Welt sich treffen kann. Wir können der Welt zeigen, dass man Vielfalt nicht nur verkraften kann, sondern dass man mit ihrer Hilfe eine bessere Gesellschaft schaffen kann. Ganz klassisch: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – diesen Dreiklang müssen wir für das 21. Jahrhundert neu erfinden. Das kann nur Europa! Allerdings müssen wir hierfür wieder Vertrauen zueinander finden….

Die Institutionen müssen bescheidener werden, nicht wir Menschen. Wir sind zu unbescheiden, wenn es um Institutionen geht. Wir sind zu bescheiden, wenn es um unsere Träume geht. Europa muss wieder anfangen zu träumen.“

Jetzt frage ich mich: Wo bleiben die Timmermanns? Einer allein genügt nicht. Wir brauchen viele davon. Wenn es nicht schon so schrecklich verbraucht wäre, könnte es heißen „je suis Timmermann.“ Wir könnten auch fragen, wie in einer alten Fernsehwerbung: „Wo bleibt der Mumm?“ Nicht der Sekt, sondern unsere Entschiedenheit. Wo bleibt unser Mumm?