Montag, Mai 30, 2016

Von der Gottlosigkeit


Wie sich die Dinge fügen: Vor einigen Tagen habe ich Elisabeth Åsbrinks Buch „Und im Wienerwald stehen noch immer die Bäume“ zu Ende gelesen, eine herzergreifende, herzangreifende Dokumentation zur Judenverfolgung im „Großdeutschen Dritten Reich“ und über seine Grenzen hinaus.

Am 28. Mai 2016, im Deutschlandfunk, „Lange Nacht“ – drei Stunden Voltaire. Voltaire war mir ein Begriff als Philosoph, weniger als Dichter, mehr als mehrjähriger Gast des Preußenkönigs Friedrich II. – sehr oberflächlich also, nicht unbedingt bildungsfern, aber eine wünschenswerte Nähe gab es nicht, was mich angeht. Das ändert sich gerade. Ich lerne Voltaire besser kennen.

Als erstes begegneten mir Voltaires Zeilen über die Kirche und den Fanatismus. Sie passen zu Åsbrinks Buch als hätte Voltaire sie dafür geschrieben, jedenfalls zu den von mir notierten Auszügen.

Ich finde, man kann an Gott glauben. Man muss es nicht. Und viele können es nicht. Der Glaube an Gott hat aber mit dem Christentum so gut wie nichts zu tun. Die christliche Religion ist seit jeher des Teufels, wie der über fast zweitausend Jahre zu dokumentierende Judenhass beweist.  (siehe die Buchaus-züge Seiten 375 – 378. Das donnernde Schlusswort hat Voltaire):

„313: In Mailand wird beschlossen, dass Juden nicht länger in Jerusalem leben und auch nicht zum Christentum konvertieren dürfen. Heiratsverbot zwischen Juden und Christen. Ehen wurden aufgelöst.

535, Konzil von Clermont: Den Juden wird das Recht genommen, öffentliche Ämter innezuhaben.

538: Juden wird verboten, christliche Dienerschaft oder christliche Sklaven zu halten.  Sie können keine Landwirtschaft mehr betreiben.

653, Konzil von Toledo: Juden müssen Vorschriften unterschreiben, die es ihnen ummöglich machen, nach den Vorschriften der jüdischen Religion zu leben. Zuwiderhandlungen werden durch Steinigung oder mit dem Tod auf dem Scheiterhaufen bestraft.

654: Gesetze verbieten den Juden, Pessach zu feiern, jüdischen Speisegesetzen zu folgen sowie nach jüdischer Sitte zu heiraten. Es ist ihnen verboten, Christen vor Gericht zu verklagen oder gegen Christen als Zeugen aufzutreten.

684: In Toledo wird beschlossen, jüdische Literatur zu verbrennen und jüdische Kinder ihren Eltern wegzunehmen und zur christlichen Erziehung in ein Kloster zu stecken.

692: Es wird befohlen, alle Juden zu Sklaven zu machen und ihnen ihr Eigentum wegzunehmen.

722: Der oströmische Kaiser Leo III. verbietet das Judentum im gesamten Reich, lässt Synagogen, voll mit Gläubigen, niederbrennen und ordnet Zwangstaufe an.

829: Der französische Erzbischof behauptet, das Juden christliche Kinder entführen und an die Araber verkaufen.

855: In der Gegend von Béziers wird in Osterpredigten aufgefordert, sich an den Juden wegen der Kreuzigung zu rächen.

1012: Die Juden werden aus Mainz vertrieben, wenn sie sich nicht zu Christen bekehren lassen.

1022, Rom: Nach einem Erdbeben und einem Orkan werden die Juden angeklagt, Gottes Zorn verursacht zu haben. Sie werden verbrannt.

1078: Papst Gregor VII. legt fest, dass Juden keinerlei Amt innehaben dürfen, durch das sie Christen übergeordnet wären.

1081: Juden müssen eine Sondersteuer an die Kirche zahlen.

1096: Kreuzritter begehen überall in Europa einen Massenmord an Juden, die nicht zum Christentum übertreten.

1179, Konzil zu Rom: Das Zeugnis von Christen ist vor Gericht dem von Juden vorzuziehen.

1215: Juden wird eine besondere Tracht vorgeschrieben, damit sie sich von Christen unterscheiden.

1222: Konzil von Oxford verbietet den Bau von Synagogen.

1232: Papst Gregor IX. verbietet freundschaftliche Beziehungen zwischen Juden und Christen.

1236: In Frankreich werden Juden, die sich nicht dem Christentum anschließen, ermordet.

1267: In Wien werden alle Juden verpflichtet, eine besondere Tracht zu tragen. Thomas von Aquin erklärt, dass die Juden in ständiger Unterwürfigkeit zu leben hätten.

1279: Konzil in Ungarn untersagt Christen, Grund und Boden an Juden zu veräußern oder zu vermieten.

1280: Die Kirche in Polen fordert, die Juden des Landes von der restlichen Bevölkerung zu isolieren.

1306: Französische Juden werden vertrieben, ihr Eigentum beschlagnahmt. In Sulzbach und Rufach sollen Juden das Abendmahl entweiht haben, man verbrennt sie  bei lebendigem Leibe.

1320: In Nordspanien und Südfrankreich werden mehr als einhundert jüdische Gemeinden aufgelöst, von Christen, die fordern, dass ihre Bewohner konvertieren.

Im 14. Jahrhundert werden Juden in ganz Europa ermordert, weil in Predigten behauptet wird, sie hätten die Pest und den Schwarzen Tod verursacht.

1434: Konzil von Basel untersagt den Juden, einen akademischen Grad zu erwerben.

1451: Papst Nikolaus V. verbietet den Christen den gesellschaftlichen Umgang mit Juden.

1492: Alle Juden müssen Spanien innerhalb von drei Monaten verlassen oder sich taufen lassen. Einige Tausend wurden auf dem Scheiterhaufen verbrannt. 150 000 flohen. 100 000 Juden werden aus Sizilien verbannt.

1509: Kaiser Maximilian befiehlt die Vernichtung aller Schriften, die sich gegen das Christentum richten. Jüdische Wohnungen und Synagogen werden durchsucht, Bücher beschlagnahmt.

1538: Hetzschrift Martin Luthers „Wider die Sabbather“.

1543: Martin Luther: „Von den Juden und ihren Lügen“.

1555: Papst Paul IV. lässt eine Mauer um das jüdische Viertel in Rom errichten. Die Bewohner dürfen das Getto zur Nachtzeit nicht verlassen. Grunderwerb ist den Juden verboten. Die jüdischen Männer müssen einen gelben Hut tragen, die jüdischen Frauen ein gelbes Tuch.

1685: In Frankreich wird das Judentum verboten. Der Katholizismus ist die einzige zugelassene Religion.

1794: Die russische Zarin Katharina II. ordnet an, dass Juden eine doppelt so hohe Steuer zahlen müssen wie Christen.

Wie teuflisch Religion, Religiosität sein kann, zeigt die Reaktion des schwedischen Pastors Pernow auf die „Reichskristallnacht“ am 9. November 1938. Pernow hat mitgeholfen, jüdische Kinder nach Schweden zu retten. Sein Motiv war aber nicht so sehr eine bedingungslose Rettung. Ihm ging es vor allem um die Christianisierung. Wichtig war ihm, aus Juden Christen zu machen. Wozu das führte, zeigt folgender Auszug von Seite 299:

„Man kann über Morde, Selbstmorde, Misshandlungen, Folterungen und Verwüstungen auf die unterschiedlichste Weise sprechen. Man kann viele Wörter wählen, wenn man auf das Einsperren Zehntausender von Menschen reagiert, die keines anderen Verbrechens beschuldigt werden als ihrer eigenen Geburt. Pastor Pernow wählt die folgenden: ‚Nun ist Gott am Werk.‘“

Müssen wir uns über Hitler wundern, der sechs Millionen Juden ermorden ließ? Er hat doch nur fortgesetzt, wenn auch in größerem Maßstab, was seit ungefähr 2000 Jahren praktiziert wurde. In diesem Sinne ist Hitler als überzeugter Christ zu sehen, auch wenn das schwerfällt.

Wie notierte Reichspropagandaminister Joseph Goebbels in seinem Tagebuch am 27. März 1942? „ Aus dem Generalgouvernement werden jetzt, bei Lublin beginnend, die Juden nach dem Osten abgeschoben. Er wird hier ein ziemlich barbarisches und nicht näher zu beschreibendes Verfahren angewandt, und von den Juden selbst bleibt nicht mehr viel übrig. Im Großen kann man wohl feststellen, dass 60 Prozent davon liquidiert werden müssen, während nur noch 40 Prozent in die Arbeit eingesetzt werden können. Der ehemalige Gauleiter von Wien, der diese Aktion durchführt, tut das mit ziemlicher Umsicht und auch mit einem Verfahren, das nicht zu auffällig wirkt.“ (Seite 310/11) Im Grunde alles wie gehabt.

Und wirklich: Die Welt bleibt sich treu. Dafür ist der Schwede Per Engdahl, einer der führenden schwedischen Nazis in den 30ern und 40ern bis weit in die 1950er hinein ein inzwischen weitgehend in Vergessenheit geratenes Beispiel. Auszug Seite 389/390:

„Im Jahr 1958 wurde Per Engdahl zum Chef der Europäischen Bewegung ausersehen. Ingvars altes Idol erlebte seine größten Erfolge in den Fünfzigerjahren und sah seinen Traum allmählich Wirklichkeit werden, als sich Europas rechtsextreme Bewegungen zusammen-schlossen und an Größe zunahmen.

Als die Regierung der Bundesrepublik 1962 den Neonazismus im Land unter die Lupe nehmen ließ, stellte sich heraus, dass der wichtigste Lieferant von gedruckter Propaganda für die deutschen Nazis das Land Schweden war, und als eine Schlüsselfigur im internationlen Netzwerk der Faschisten wurde Per Engdahl genannt.

Später lancierte er den Gedanken, dass die europäischen Rechtsextremen die Anwendung des  besudelten Begriffs ‚Rasse‘ unterlassen sollten, wenn sie Einwanderung und Minoritäten bekämpfen wollten. Stattdessen sollten sie von ‚Kultur‘ reden:

‚Eine Einwanderung, die bedeutende Minoritäten mit eigenen Strukturen schafft, stellt stets eine Bedrohung der Existenz eines Volkes dar und damit auch der Kultur, die sie repräsentiert.“

Was die AfD in Deutschland, was Marie LePen in Frankreich, Herr Wilders in den Nieder-landen, was die Regierungen Polens, Tschechiens, Ungarns und schließlich auch Deutschlands zurzeit sagen und treiben, ist also nicht neu. Es ist beängstigend.

Nun ist Angst ein schlechter Ratgeber. Was aber tun? Am Verstand der Menschheit verzweifeln genügt nicht. Wie aber sind wir zur Vernunft zu bringen? Ob es mit etwas mehr Herz gelingt? Und wie sollen wir das anfangen?

Und nun Voltaire über die Kirche und religiösen Fanatismus:

"Wenn es feststeht, dass die Geschichte der Kirche eine ununterbrochene Folge von Konflikten, Verleumdungen, Torturen, Betrügereien, Rauben und Morden ist, dann ist damit erwiesen, dass jene Ausschreitungen in der Sache selbst begründet sind, ebenso wie erwiesen ist, dass der Wolf immer ein Raubtier war und dass es sich keineswegs um vorübergehende Ausschreitungen handelt, wenn er unsere Schafe reißt." (Das Diner beim Grafen Boulainvilliers)

"Was für ein Netz von Betrügereien, Verleumdungen, Schurkereien haben die Fanatiker der römischen Kurie gegen die Fanatiker Calvins, die Jesuiten gegen die Jansenisten gesponnen, et vicissim! Gehen wir weiter zurück, so erweist sich die Kirchengeschichte nicht nur als eine Schule der Tugend, sondern auch als eine Schule der Ruchlosigkeit in den Beziehungen der Sekten untereinander. Sie tragen alle die gleiche Binde vor den Augen, ob es nun darum geht, die Städte und Dörfer ihrer Gegner in Brand zu stecken und die Einwohner zu erwürgen oder zu foltern, oder ganz einfach darum, zu betrügen, sich zu bereichern und zum Herrn aufzuwerfen. Der Fanatismus macht sie blind, sie glauben, recht zu tun. Alle Fanatiker sind Schurken mit gutem Gewissen und morden in gutem Glauben an eine gute Sache." (Über die Toleranz)

"Die Religion ist keine bekömmliche Nahrung für solche verseuchten Seelen; in den infizierten Gehirnen wird sie zum Gift. Solche Leute sind überzeugt, dass der Geist, von dem sie besessen sind, über den Gesetzen steht (…). Was soll man einem Menschen entgegenhalten, der sagt, er wolle lieber Gott als den Menschen gehorchen, und daher überzeugt ist, in den Himmel zu kommen, wenn er einem den Hals abschneidet?" (Über die Toleranz)

"Der Rat Dubourg, der Domherr Chauvin, genannt Calvin, der spanische Arzt Servet, der Calabrese Gentilis dienten demselben Gott. Dennoch ließ der Präsident Minard den Rat Dubourg hängen; und die Freunde Dubourgs ließen Minard ermorden; und Jean Calvin ließ den Arzt Servet auf dem Scheiterhaufen verbrennen und hatte den Trost, viel dazu beigetragen zu haben, dass dem Calabresen Gentilis der Kopf abgeschlagen wurde; und die Nachfolger Calvins ließen Antonius verbrennen. Sind Vernunft, Gottesfurcht und Gerechtigkeit schuld an diesen Morden?"