Montag, Oktober 16, 2017

Der eingebildete Kranke

Folgen wir Molières Text buchstaben- und sinngetreu, dann müssten wir vom eingebildet Kranken reden,  jemandem also, der sich einbildet, krank zu sein. Es geht schließlich nicht um einen Kranken, der sich auf etwas einbildet, sich für etwas Besseres hält, hochnäsig ist. Nach diesem rabulistischen Ausflug zu uns selbst, zu uns und unseren Problemen, mit denen wir uns auseinander Tag für Tag auseinandersetzen müssen.

So banal es klingt: Essen und Trinken gehören nun mal dazu und damit auch das Einkaufen. Das muss irgendwann einmal recht einfach gewesen sein. Kartoffeln, Gemüse, Milch, Butter, Brot und Käse, Äpfel, Birnen, Erdbeeren usw. usw. – es wurde gekauft, wie es kam. Das war nicht nur in den bitterarmen Zeiten gleich nach dem Krieg so, sondern auch in guten Zeiten. Das hat sich geändert.

Natürlich wollen wir auch heute gegen unser gutes Geld gute Ware erhalten. Es ist nur schwierig geworden festzustellen, was gut ist und gut tut, und was nicht. Wir sind klüger geworden. Die Wissenschaften haben so große Fortschritte gemacht, auch, was Lebensmittel angeht, dass uns davon ganz schwindlig wird. Inhaltsstoffe – welch ein Wort! – werden mit einer Genauigkeit vermessen als ginge es um eine Punktlandung auf dem Mars. Und dann wird sortiert wie bei Aschenputtel: die Guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen.

Das Dumme daran ist, dass darauf kein Verlass ist. Ganz plötzlich ist das Gute schlecht und das Schlechte gut. Unser Gehirn ist eigentlich ein ziemlich gutes Navigationssystem. Aber da ist es überfordert und spielt verrückt. Und wir auch.

Ist linksdrehende Milchsäure besser als rechtsdrehende, oder umgekehrt? Was ist das überhaupt? Mit der einen Variante kommt die Verdauung schneller zurecht, bei der anderen geht es etwas langsamer. Es ist ziemlich also ziemlich egal und kein Grund, sich Gedanken zu machen.

Falls dieses Beispiel zu abwegig erscheint: Glutenfrei, laktosefrei – Hinweise, die für wenige wichtig sind, aber viele verunsichern. Man weiß ja nie. Dann die pro-aktiven Yoghurte. Wirken anscheinend vorauseilend. Es ist zum Verrücktwerden.
Was soll man noch glauben?  – von Wissen kann nicht die Rede sein.

Aber da sind doch die Inhaltsangaben auf den Etiketten. Da können wir lesen, was drin ist. Aber wer kann mit den Angaben etwas anfangen? Haben wirklich alle in der Schule gelernt, dass Glukose auch Zucker ist? Und wer hat schon Lebensmittelchemie studiert oder etwas ähnlich Nützliches?

Inhaltsangaben auf den Etiketten informieren nicht, sie setzen das Navigations-system unseres Gehirns außer Gefecht. Wir blicken nicht mehr durch. Wir sind hilflos. Wir lassen uns an die Hand nehmen und wandern durch das Paradies, das uns vermeintlicher Wissenschaftsfortschritt und sein Missbrauch  versprechen. Gesund ist das nicht. Das Lesen von Inhaltsangaben ist übrigens auch ungesund. Die Texte sind so klein gedruckt, dass sie bei häufigem Lesen zu Augenschäden führen können.