Montag, Januar 16, 2017

"Fortschritt"

Fortschritt hat sich oft als Irrweg herausgestellt. Vermeintliche Irrwege haben immer wieder mal zum Ziel geführt. Nicht alles ist berechenbar, auch wenn wir es uns noch so sehr wünschen. So viel zum Philosophischen, zur Theorie, die zugegebenermaßen nicht immer grau sein muss. Aber jetzt zum Praktischen.

Nehmen wir uns dazu etwas ganz Populäres, das in vieler Hinsicht die Menschen bewegt: das Auto.

Das Automobil versprach die große Freiheit und hat das Versprechen anfangs auch eingelöst. Kein Fahrplan, kein Gedrängel auf dem Bahnhof. Abfahren, wann man will und sich keine Strecke vorschreiben lassen. Freiheit eben. Diese Freiheit steht heute täglich im Stau.

Aber nicht nur das hat sich geändert. Geändert hat sich das Auto selbst. Genauer: Es wurde verändert. Und ein Ende der Veränderungen ist nicht abzusehen. Damit wollen wir uns hier beschäftigen, und am besten fangen wir mit der Gegenwart an, bevor wir uns der Vergangenheit zuwenden.

Autos können heute die tollsten Dinge. Wenn man sie parkt, legen sie die Außenspiegel an wie ein gehorsamer Hund die Ohren. Bei den supergroßen, superbreiten SUVs würde das noch Sinn machen, weil sie sonst in die Normplätze der Parkhäuser nicht hineinpassen. Aber die kleineren Autos? Die äffen die Sache doch nur nach. Die passen doch auch mit den Flügelohren von Prince Charles in jede Lücke. Abgesehen davon: Welchen Sinn machen die SUVs, die mit ihren normalen Straßenreifen schon in der kleinsten Pfütze stecken-bleiben würden? Der reine Unfug. Die reine Angeberei.

In Cabrios werden Fahrer und Beifahrer Sitze angeboten, die mit warmer Luft
Hals und Nacken umfächeln und das ersetzen sollen, was jeder vernünftige Mensch normalerweise um den Hals schlingen würde: einen Schal. Die einzige Erklärung: Wer sich ein so teures Auto gekauft hat, kann sich keinen Schal mehr leisten. So verbindet sich vermeintlicher Reichtum mit geistiger Armut. Kein Barhocker hat eine Sitzheizung aber im Automobil braucht man eine.

Was es sonst noch alles gibt. Allein die vielen Fahrerassistenzsysteme sind kaum noch zu überblicken: Spurwechselwarnung, Auffahrwarnung, Aufmerksamkeits-assistent, Parkassistent. 

Endlich werden die Autofahrerinnen rehabilitiert. Seit Autofahrergedenken  sollen sie  nicht einparken können. Automatisches Einparken, auch auf engstem Raum, wird ihnen  jetzt angeboten, allerdings auch den dämlichen Herrenfahrern. Die sind offenbar genau so unfähig, haben es nur nicht zugegeben. Endlich mal Gleichberechtigung, Gleichbehandlung.

Sprachbefehle: Die Schwierigkeiten dialektbehafteter Autofahrer – erwähnt seien nur Sachsen, Bayern, Schwaben, Nordfriesen – dürften noch nicht ganz beseitigt sein. An den Lösungen ist noch zu arbeiten.  Befehle, die kein Wort brauchen: Nur eine Hand- oder Fußbewegung, schon öffnet sich die Heckklappe. Schließt sie sich auch  automatisch, oder muss noch einmal mit Hand oder Fuß nachge-holfen werden?

Dass die Autoindustrie unter „Fortschritt“ aber auch etwas ganz anderes versteht, am Autofahrer vorbei und nur an den eigenen Vorteil denkend, zeigen folgende Beispiele:

Die Beleuchtung einiger wichtiger Schalter am Armaturenbrett gibt ihren Geist auf. Das kann passieren. Dass man dafür aber gegen erheblichen Zeit- und Geldaufwand, die halbe Armaturentafel aus- und wieder einbauen muss – ist das „Fortschritt“?

Die Elektronik zeigt sich von einer menschlichen Seite. Wenn sie friert, so ab spätestens Null Grad, dann setzt sie die Scheibenwischer in Bewegung, und sei es noch so trocken. Bis sich die Elektronik etwas wohler fühlt, muss man ihr zwischendurch immer wieder „auf die Finger klopfen“, um ihr diese Eigenwilligkeit auszutreiben. Der genervte Autofahrer bittet die Werkstatt darum, die Elektronik zur Ordnung zu rufen. Das geht aber nicht. Reparatur nicht möglich. Da muss ausgetauscht werden. Kosten: 600,00 €. Der Autofahrer lässt sich daraufhin weiter nerven.

Ein Scheinwerfer gibt seinen Geist auf. Ärgerlich,  aber verständlich. Nicht alles funktioniert ewig, ganz besonders, wenn es häufig beansprucht wird. Die kaputte Birne selbst austauschen? Nee, lieber ab in die Werkstatt. Kann ja nicht lange dauern und wird kein Vermögen kosten. Irrtum: Von außen kommt man nicht an den Scheinwerfer ran. Da muss dies und das ausgebaut werden. Auskunft: „Das können Sie allein gar nicht. Kostet 70,00 €, und heute können wir das gar nicht mehr machen.“ „Fortschritt“? Für Autohersteller und Werkstätten wahrscheinlich. Dem Autofahrer bleibt das Wort im Hals stecken.

Ging das nicht auch mal anders? Ein Blick zurück ins automobile Insektenalter – siehe „Arbeitspreise für Instandsetzungen – Volkswagen 1200,  Ausgabe Mai 1964“ beweist es schwarz auf weiß: „Einen Scheinwerfer aus- und einbauen (einschl. einstellen) – 4,50 DM. Viele Käferfahrer konnten und machten das selbst.

„Motor aus- und einbauen (einschl. Zündzeitpunkt prüfen und einstellen, Verbindungsschläuche, Kabel und Seilzüge anschließen, Kupplungsspiel einstellen) – 12,50 DM“.

Na gut, Die Scheiben musste man runter- und wieder raufkurbeln, der Außenrückspiegel war umständlich einzustellen, glücklicherweise gab es nur einen,  auf der Fahrerseite. Das und noch ein paar andere Handgriffe waren nicht so schlimm wie sich das heute anhört.

Alle 2.500 Kilometer musste der Käfer in die Werkstatt, weil die Schmiernippel an der Vorderachse mit Fett zu versorgen waren,  alle Nase lang wurde ein Ölwechsel fällig. Das und die Inspektionen kosteten Zeit und Geld. Beides hielt sich in Grenzen.

Nostalgischer Rückblick? Schöne alte Welt? Früher war mehr Lametta, um Loriot zu zitieren? Nein, auf keinen Fall. Schon, was das Geld angeht.

1965 betrug das monatliche Arbeitnehmereinkommen knapp 800,00 DM. Ein VW Käfer kostete 1967 5.200,00 DM, das waren sechseinhalb Monatsein-kommen. Da man ja auch noch andere Ausgaben hatte, dauerte es eine ganze Weile, bis man das Geld für den Käfer, der damals noch nicht so hieß, zusammen hatte. Selbst die 4,50 DM für den Scheinwerferein- und Ausbau wollten verdient werden.

Trotzdem bleibt die Frage, ob sich hier viel geändert hat. Die Einkommen sind höher, die Autopreise auch. Möglich, dass hier alles mehr oder weniger beim alten geblieben ist.

Vor allem aber geht es hier um die Frage, ob das, was uns als „Fortschritt“ angeboten wird, diese Bezeichnung verdient. Zweifel sind angebracht.