Donnerstag, Juli 14, 2016
Seit jeher messen wir die Zeit.
Wir teilen sie in Jahrtausende, Jahrhunderte, Jahrzehnte, in Jahre, Monate und
Tage. So geht es weiter: die vierundzwanzig Stunden des Tages, die sechzig
Minuten der Stunde … und schließlich berechnen wir die Zeit in tausendstel
Sekunden. Verstanden haben wir die Zeit aber nicht.
Wir können die Zeit nicht
begreifen. Sie bleibt unfassbar für uns. So sehr wir uns bemühen: Immer wieder
schlägt uns die Zeit ein Schnippchen. Manchmal kommt uns eine Sekunde vor wie
eine Ewigkeit, ein anderes Mal ist eine Stunde so flüchtig wie ein Wimpernschlag.
Es kommt vor, dass uns die Zeit auch für das Wichtigste fehlt. Manchmal haben
wir gar kein Zeit, und dann wieder so viel Zeit, dass wir gar wissen, was wir
damit anfangen sollen. Woran liegt das? Liegt es an uns? Liegt es an der Zeit?
Es sieht ganz so aus, als machten
wir den Fehler, der die Zeit für uns so uner-klärlich macht. Wir verstehen ihre
Flüchtigkeit nicht, verstehen nicht ihre Unab-hängigkeit von unserem Denken,
von unserem Ordnungswahn
Aber das sind nur Dinge, die für
Philosophen wichtig sind. Das sind die Men-schen, die uns die Welt erklären,
die sie selbst nicht verstehen, genau so wenig wie die Zeit. Die Zeit ist für
sie so unbegreiflich wie für alle anderen. Der einzige Unterschied zwischen den
Philosophen und uns: Sie haben nicht begriffen, dass sie es nicht begriffen
haben.
Mit diesem Problem wollen wir die
Philosophen allein lassen. Das wird ihnen vermutlich nur recht sein, schon
deshalb, weil wir ihnen mit der Zeit zu leichtfertig umgehen – wie sie finden,
bis zur Lächerlichkeit. Tatsächlich gibt es viel über unseren Umgang mit der
Zeit zu lachen. Das wollen wir uns einmal genauer ansehen.
Fangen wir mit dem Zeitfenster an. Darüber ist der
Zeitraum, an den wir uns gewöhnt hatten, so gut wie in Vergessenheit geraten.
Das Zeitfenster ist neuer und erfreut sich bei Politikern und Managern
unglaublicher Beliebtheit. Vor allem regt es die Phantasie an. Mal ist den
Damen und Herren das Zeitfenster zu schmal, zu eng, mal fürchtet man, es könne
sich schließen. Es soll auch schon mal geschlossen gewesen sein. Der Chef des
Hamburger Flughafens hatte sogar Angst, es würde schmelzen. Vielleicht sollten
die Herrschaften das Zeitfenster mal putzen. Dann hätten sie – das wäre zu
hoffen – endlich den Durchblick, der ihnen offenbar fehlt, zumindest, was die
Sprache angeht.
Mit dem Zeitraum wurde nicht so viel Unfug getrieben, eigentlich gar
keiner. So geht es auch mit dem Zeitrahmen und der Zeitspanne. Alles Begriffe, die uns vertraut sind. Deshalb können
wir gleich einen Sprung machen zum Zeitgraben.
Wir tun das in der Hoffnung, nicht hineinzufallen, denn er soll riesig sein,
also auch tief und damit gefährlich. Wer weiß, ob wir jemals wieder herauskämen.
Diese Wortschöpfung war in der ZEIT vom 19. Mai zu lesen.
Nachdem wir glücklicherweise
nicht in den riesigen Zeitgraben gefallen sind, kann es uns glatt passieren,
dass wir uns ganz unverhofft in einem Zeitkorridor
wiederfinden. Das kann uns Angst machen, denn der Zeitkorridor wird meist als
eng bezeichnet. Menschen, die unter Klaustrophobie leiden, wird das zu schaffen
machen. Ihnen bleibt nur die Hoffnung, dass dieser Korridor nicht zu lang ist. Und
tatsächlich ist bisher nur von engen Zeitkorridoren gesprochen und geschrieben
worden, die Länge der Zeitkorridore kam noch nicht zur Sprache. Möglicherweise
ist ihre Länge nicht der Rede wert. Eines aber dürfte feststehen:
Sprachklaustrophobiker werden den Zeitkorridor auf jeden Fall meiden. Ihnen
macht diese sprachliche Enge zu viel Angst.
Setzen wir unsere Zeitreise fort.
Jede Station wird sich von ihrer besten Seite zeigen, um uns zu amüsieren oder
auch nachdenklich zu machen.
Die erste Station, auf der wir
kurz Halt machen, heißt „im Zuge der
Zeit“. Vor vielen Jahren in
geschäftlicher Korrespondenz eine beliebte Floskel. Das haben die Chefs
ihren Sekretärinnen einfach so in den Stenoblock diktiert. Dass die Zeit sich
noch nie in einen Zug gesetzt hat, wurde nicht zur Kenntnis genommen. Mal
abgesehen davon: Hätte man vor der Erfindung der Eisenbahn etwa „in der Kutsche
der Zeit“ gesagt? Wohl kaum. Fahren wir fort.
Nächster Halt: Zeitraffer. Da jagen wir die Zeit so
richtig vor uns her. Natür-lich nur bildlich gesprochen, und das im wahren
Sinne des Wortes. Neuerdings immer häufiger im Fernsehen zu sehen. Da flimmert
eine Bildgeschichte ganz normal über den Bildschirm, nur die Wolken am Himmel,
die rasen wie verrückt. Das passt überhaupt nicht zusammen. Ein Grund dafür ist
nicht zu erkennen. Eine Marotte der Filmer. Eine Modeerscheinung und deshalb
wohl nicht von Dauer.
Gleich danach: Zeitlupe. Da ziehen wir die Zeit in die
Länge, machen aus Sekunden Minuten, wenn nicht noch mehr. Auch das machen wir
mit Bildfolgen, damit unsere langsamen Augen sehen können, was die Kürze der
Zeit uns verbirgt.
So geht unsere Zeitreise weiter,
von Aufenthalt zu Aufenthalt, von Zeitspanne zu Zeitnot, über Zeitnahme und Zeitnehmer. Diese beiden nehmen uns nicht die Zeit, sie klauen uns
nicht unsere Zeit. Sie halten im sportlichen Wettbewerb nur fest, wie viel Zeit
jemand für irgendetwas gebraucht hat – für einen Hundert-meterlauf oder ein
Autorennen.
Damit erreichen wir die nächste
Station unserer Zeitreise. Sie heißt Zeitvertreib.
Hier sollten wir uns einen etwas längeren Aufenthalt gönnen. Für Ungeduldige:
wenigstens ein paar Augenblicke.
Was machen wir nicht alles, um
uns die Zeit zu vertreiben! Wir amüsieren uns, wir sind ausgelassen,
leichtsinnig, wir schweben über den Dingen, über der Zeit. Wir leben zeitvergessen.
In uns die Ewigkeit, von der wir glauben, sie habe mit der Zeit nichts zu tun.
Dass wir uns irren, tut nichts zur Sache. Wir glauben, zeitlos glücklich zu
sein.
Aber gelingt uns das wirklich?
Können wir die Zeit vom Hof jagen – einfach so in die Wildnis der
Unendlichkeit? Aber das wäre ja auch wieder Zeit. Oder wäre das die Unzeit? Die Zeit, die es nicht gibt.
Sozusagen ein Schwarzes Loch? Eine Zeit, so fest zusammengefügt, das nichts,
aber auch gar nichts, nicht einmal die Andeutung von Zeit nach außen dringen
könnte?
Das ist wohl wieder ein Thema für
unsere Philosophen und Astrophysiker, nicht für uns. Unsere Unzeit ist viel
schlichter. Wir kommen (zu einem Besuch) zur Unzeit, zu einem Zeitpunkt, der
nicht passt.
Der Zeitpunkt ist auf unserer Reise eine so kleine Station, dass wir
uns dort nicht weiter aufhalten wollen. Wer aber will, kann hier aussteigen.
Ein Blick auf den Zeitfahrplan
zeigt, dass noch einige Stationen vor uns liegen. Wir werden einige Zeit für
die Weiterreise brauchen. Die sollten wir uns nehmen.
Ob es sich lohnt, wird sich
herausstellen. Einige Neugier dürften allein die Stationen Zeitgeist, Zeitgeschichte, Zeitgeschehen, Vorzeit, Endzeit, Unzeit
wecken.
Selbst geduldige Sprachreisende
werden sich jetzt fragen, wann endlich die Reise ein Ende nimmt, wann das Ziel
der Zeitreise erreicht sein wird. Das lässt sich im Augenblick nicht sagen.
Denn das ist eine Frage der Zeit.
Kein Grund, nervös zu werden.
Allerschlimmstenfalls könnten wir in Zeitnot
geraten. Das sollte uns nicht erschrecken; denn Zeit gibt es im Überfluss. Die
Not kann also nicht allzu groß werden.
Tatsächlich weisen weitere
Stationen auf unserer Zeitreise darauf hin, zum Beispiel Zeitzünder und Zeitbombe.
Dort wollen wir lieber nicht Halt machen. Auch bei der Ortszeit verzichten wir auf einen Aufenthalt, obgleich diese
Station einen eher harmlosen, aber doch wenig einladenden Eindruck macht. Auch
die Zeitzone lassen wir ohne
anzuhalten hinter uns, selbst wenn uns da vielleicht etwas entgeht. Bei der Weihnachtszeit ist sicherlich ein längerer Aufenthalt
angebracht. Bis dahin ist es aber noch weit.
Ehe unser Zeitzug sich auf der Zeitschiene wieder in Bewegung setzt
und das monotone Rattern der Zeitachse
uns von Station zu Station begleitet und ermüdet, nehmen wir erst mal eine Auszeit.
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