Samstag, Januar 03, 2015

"Der dritte Weg"

So hat die Autorin Katja Thimm ihre SPIEGEL-Titelgeschichte (1/2015, 29. 12. 2014) überschrieben; sie reicht von Seite 112 bis Seite 120. Bei der kleinen SPIEGEL-Schrift kommt da viel Text zusammen. Viel zu lesen also. Ob auch wirklich viel dabei herauskommt? Mal sehen.

Im Vorspann behauptet Frau Thimm „Nachdem sich die traditionelle Familie als brüchiges Modell herausgestellt hat, entdecken die Deutschen ihre Freunde neu.“ Das klingt so, als könnten wir mit dem Zusammenleben in einer Familie in zwei, drei, manchmal sogar 4 Generationen nichts mehr anfangen, als wollten wir einfach nicht mehr so leben. Wenn das Frau Thimm so sieht, dann sehe ich das anders.

Ich denke, dass der Wunsch nach Familie, nach Familienleben, mit seiner Wärme, auch mit seinen Zankereien, nach wie vor besteht. Es wird nur immer schwieriger, sich diesen Wunsch zu erfüllen.

Familien sind heute nicht nur übers ganze Land verstreut, sondern über Länder, über Kontinente. Von Zusammenleben, so sehr man es sich wünscht, kann da kaum die Rede sein. Deshalb: Die traditionelle Familie ist für mich kein brüchiges Modell. Sie ist eine Lebensform, die wir kaum noch leben können. Viele von uns sind Arbeitsnomaden – gestern in Berlin, heute in München, morgen in London oder sonst wo. Wir gehen dahin, wo wir Arbeit finden und nehmen unsere Kinder mit, aber eben nicht die ganze Familie. Die löst sich, ob wir es wollen oder nicht, schlicht auf.

Also die Freundschaft als dritter Weg, so Frau Thimm. Aber wieso dritter Weg? Den Hinweis auf einen zweiten habe ich erst beim Nachlesen gefunden. Und das mit der Freundschaft ist auch so eine Sache. Wenn ich von Stadt zu Stadt zigeunere, von Land zu Land vielleicht sogar, dann bleiben ja auch die Freunde zurück, und neue müssen gefunden werden. Familie, Familienleben braucht Nähe und Beständigkeit; die fehlt.

Ich sehe nicht alles so wie Frau Thimm. Trotzdem: Respekt. Ich finde, sie ist nicht nur eine kluge Frau, sie ist auch fleißig. Sie hat sich unter den Klugen – ich will nicht sagen Neunmalklugen – umgesehen und hat sage und schreibe 14 von ihnen um sich versammelt, nur für diesen Text. Ich kann es mir nicht verkneifen, ich muss sie hier
notieren:

Heinz Bude, kasseler Soziologie-Professor – Janosch Schobin, Soziologe – Wolfgang Krüger, Psychotherapeut – Daniel Tyradellis, Philosoph – Horst Petri, Psychoanalytiker – Sivlia Bovenschen, Schriftstellerin – Erika Alleweldt, Soziologin, Humboldt-Universität, Berlin – Vincenz Leuschner und Sabine Flick, Soziologen, Freundschaftsforscher, Universität Frankfurt/Main –  Axel Honneth, Soziologie-Professor, Frankfurt/Main – Jaap Denissen, Psychologie-Professor, Universität Tilburg, NL – Ursula Nötzold-Linden, Soziologin, München – Georg Simmel, (1908), Soziologe – Nicholas Christakis, Yale University.

Donnerwetter! So viel Intelligenz, so viel Wissen, so viel Klugheit. Und? „Da steh ich nun, ich armer Tor, und bin so klug als wie zuvor.“ Trotzdem bedauere ich es nicht, die Fleißarbeit von Frau Thimm gelesen zu haben.

An einer Sache rätsele ich immer noch herum: Warum führt Frau Thimm so viele Namen auf? Will sie zeigen, wie fleißig sie war, wie gewissenhaft sie gearbeitet hat? Will sie sich gegen etwas – ja, gegen was?  absichern, zum Beispiel gegen den Vor-wurf, sie schmücke sich mit fremden Federn?

Mit dieser Zitierwut ist Frau Thimm nicht allein, auch nicht der SPIEGEL. Natürlich gibt es einen ehrenwerten Grund, seine Quellen zu nennen: die Fairness, fremdes, angelesenes Wissen nicht als das eigene auszugeben. Aber man kann übertreiben. Oft würde ein allgemeiner Hinweis darauf genügen, dass es die verschiedensten Erkenntnisse, Ansichten, Meinungen usw. von Wissenschaftlern gibt. Aber dann lässt sich der Fleiß der Autoren nicht mehr erkennen. Ist also doch ein bisschen Eitelkeit im Spiel? Wenn ja – einverstanden!

*Ich musste extra noch mal nachlesen, um herauszufinden, weshalb Frau Thimm vom dritten Weg schreibt. Sie bezieht das auf die Einteilung von Heinz Bude: Familie, Wohlfahrtsstaat, Freunde. 02. 01. 2015

PS: Sprach-Firlefanz, sprich: Soziologen-Deutsch

Janosch Schobin spricht von „Verfreundschaftlichung der Gesellschaft“ und von einer „Verfürsorglichung von Freundschaft“. Was diese Begriffe angeht, sagt der Berliner Junge in mir: Au backe, der kann vor Kraft nich loofen.

Am Rande und vielleicht trotzdem aufschlussreich: Ich hatte mich gerade eben vertippt und hatte geschrieben „Verführsorglichung“. Vielleicht verbirgt sich hinter diesem Verschreiber etwas viel Verführerisches als die Fürsorge.