Donnerstag, Dezember 25, 2014

Die berühmten 5 Minuten vor 12

Zahlen haben eine besondere Magie. Sie üben einen Zauber auf uns aus, dem wir uns kaum entziehen können. Sie können uns zu merkwürdigen geistigen Kapriolen verführen, zu Unverstand sozusagen, zu unverständigem Denken und Tun.

Wenn wir Matrosen wären und wie vor hundert Jahren um Kap Horn herumsegeln müssten, dann würden wir um alles in der Welt nicht am 13. eines Monats, wenn der auf einen Freitag fällt, in See stechen. Eher würden wir abmustern. Aber glücklicherweise ließen die Kapitäne, die meisten jedenfalls, ihre Schiffe an diesen Freitagen schön vertäut am Kai liegen.

Paris musste sich – als es sich um den ersten überlieferten Schönheitswettbewerb ging – zwischen 3 Schönheiten entscheiden. Warum eigentlich? Es heißt doch „Aller guten Dinge sind drei.“ Aber hier ging es um ein Problem. Heute ist die Auswahl wesentlich größer, nicht zuletzt durch die Partnerschafts-Portale im Internet. Es geht also um ein noch größeres Problem. Ob sich das mit einem Apfel in der Hand lösen lässt, frei nach dem Motto „An apple a day keeps the wrong girl away.“? Im Zweifelsfall selbst in den Apfel beißen und nicht in einen schon angebissenen, wie er heute weltweit angeboten wird.                                  

Wenden wir uns dem Dezimalen zu, das uns Menschen auf dem Kontinent so unerbittlich beherrscht. Die Engländer haben sich bis vor kurzen energisch gegen das Dezimalsystem gewehrt. Wir verdanken es den Römern. Sie hatten die Kraft, dieses System durchzusetzen. Ganz gelungen ist es ihnen allerdings nicht.

Wenn wir einmal ganz kurz auf die Wochenmärkte zu Anfang des vergangenen Jahrhunderts zurückblicken – natürlich brauchen wir dazu ein sehr, sehr gutes Fernglas – dann sehen wir zum Beispiel, dass Hühnereier nicht nach dem Dezimalsystem angeboten wurden. Da ging es um ein Dutzend, eine Mandel, ein Schock Eier. Das Dutzend kennen wir noch heute, wenigstens einige von uns. Wie viele Eier bekam man, wenn man eine Mandel oder ein Schock Eier verlangte? 15 bzw. 60. (1 Schock gleich 4 Mandeln, gleich 5 Dutzend.)

So ganz hat das Dezimalsystem aber doch nicht gesiegt. Piloten und Kapitäne rechnen nicht in Metern, sie rechnen in Fuß, Meilen und Knoten. Kein totaler Sieg also. Vor dem soll man sich sowieso schützen. Das musste vor allem Deutschland lernen. Und wenn es noch nicht gelernt ist, dann gehört es auf den Stundenplan.

Nach diesen Ausflügen zu einer scheinbar ganz unauffälligen* Zahl, der 5. Warum gerade die 5? Weil sie eine Primzahl ist, eine Zahl, die sich nur durch 1 und sich selbst teilen lässt? Nein. Weil es heißt, man solle fünf gerade sein lassen? Nein. Es geht um die berühmten 5 Minuten vor 12.

Was macht diese 5 Minuten so berühmt. Schließlich haben sie keine Sekunde mehr als alle anderen Minuten. Tatsächlich geht es um etwas ganz anderes. Es geht nicht um die Zeit, sondern darum, was wir mit der Zeit angefangen haben – oder auch nicht.

Die letzten Minuten vor einem Wechsel, eben „die 5 Minuten vor 12“, erinnern uns daran, was wir möglicherweise versäumt haben, was wir trotz aller guten Vorsätze nicht getan, nicht geschafft haben. Jetzt aber los, die letzten 5 Minuten nutzen. Aber wie so oft im Leben, bleibt dieser Last-minute-Vorsatz wohl das, was er ist: ein Vorsatz.

Trotzdem sollten wir den Kopf nicht hängen lassen. Wir können es in Zukunft ja besser machen. Wenn ein neues Jahr vor uns liegt, sind wir auf die „5 Minuten vor 12“ bestimmt nicht angewiesen.

Diese verdammten „5 Minuten vor 12“ haben uns so im Griff, dass wir die „5 Minuten nach 12“ oft übersehen. Dabei sind sie mindestens genauso bedeutsam. Vielleicht schieben wir diese Minuten in der Annahme beiseite, sie sei von Politikern erfunden worden. Das muss nicht stimmen, aber irgendwie gibt es das Gefühl.

Wenn Politiker sagen, es ist „5 Minuten nach 12“, dann wollen sie uns nicht daran erinnern, dass wir vergessen haben, die Sommer- auf die Winterzeit umzustellen, oder umgekehrt. Sie wollen nicht mit der Wahrheit herausrücken. Das ist es. So wollen nicht zugeben, dass an dieser oder jener Sache nichts mehr zu ändern ist. Sie sagen, dass wir uns keine Hoffnung machen sollen; der Zug sei abgefahren. Sie wollen schon gar nicht zugeben, dass sie die Sachen schon vorher hätten regeln müssen – notfalls in den „letzten 5 Minuten“. Sie setzen darauf, dass wir uns damit abfinden. Wie wäre es mit einem Nobelpreis für Volksverdummung? Der Erfinder der „5 Minuten nach 12“ hätte gute Chancen.

Zu großen Teilen entstand dieser Text bereits vor 14 Jahren, als ein neues Millenium eingeläutet werden sollte, ein Millenium wohlgemerkt – nicht ein neues Jahrtausend. Von Dezennien und Zentenarien war schon die Rede, da kam ja nur noch Millenium infrage. Die inzwischen seltenen Lateinschüler wussten Bescheid, alle anderen waren – hoffentlich – beeindruckt.

Und nun – eingezwängt zwischen den „5 Minuten vor 12“ und den „5 Minuten nach 12“? Heben wir das Glas, gehen wir in das neue Jahr ohne Minutenfuchserei. Wann genau? Natürlich am 31. Dezember. Pünktlich  um 12? Nein.  Um 24 Uhr?  Oder um Null Uhr? Ich sehe schon, nicht nur das Feuerwerk fliegt uns um die Ohren, sondern auch die Zeit. 25. 12. 2014