Montag, Mai 15, 2006

Gesimst und gefühlt

Früher, als die Welt noch in Ordnung war*, wurden wir in den Telefonzellen mit der Aufforderung zur Ordnung gerufen: „Fasse dich kurz!“. Diese auch heute noch vernünftig erscheinende Aufforderung – Telefonminuten sind teuer – wird mit Verachtung gestraft. Telefongespräche zeichnen sich dadurch aus, dass sie kein Ende zu finden scheinen – drei, vier, fünf mal scheint das Gespräch beendet zu sein, um dann doch wieder fortgesetzt zu werden.

Ganz anders sieht es bei der modernen Variante der Kommunikation aus, der SMS, die über das Handy, Telefonino, Mobile Phone läuft. Da kann es gar nicht kurz genug sein. Mit ein paar Buchstaben ist alles gesagt: „ILD“ – ich liebe dich. „IHD“ – ich hasse dich, oder ich habe Durst? Die Empfänger werden es wissen.

Also wirklich: Kürzer geht es kaum. Herr Morse würde gelb vor Neid, und die Stolze Schrey, diese wunderbar kurze Stenoschrift wäre nun wirklich zu lang.

Nun steht hinter dieser modernen Kürze, die vielen Telefongesprächen gut täte, nicht der Aufruf „Fasse dich kurz!“, sondern die Primitivität der Handy-Tastatur. Für manchen Buchstaben muss eine Taste – ein Tästchen – dreimal gedrückt werden. Das ist umständlich und zeitraubend. Die Folge: „DWN“, sprich: das will niemand.

Und noch etwas, bevor ich zu meinem eigentlichen Thema komme: „Schicken Sie doch einfach eine SMS“, heißt es. Aber was heißt das wirklich? Nichts anderes – genau genommen – als „Schicken Sie doch einfach eine SHORT MESSAGE SERVICE“. Ziemlich blöd, nicht wahr, und grammatikalisch völlig daneben. Aber heute nehmen wir es ja nicht mehr so genau mit unserer Sprache.

Im Sprechgebrauch, ja, im Sprech- und nicht Sprachgebrauch wird es dann wieder ganz lustig. Da heißt es nämlich nicht „Ich EssEmEsse“, sondern „Ich simse“. Sim-sala-bim, so geht es heute in unserer Welt.

Jetzt aber endlich zu dem, was ich schon die ganze Zeit los werden möchte: Der SMS-Jargon macht sich überall in unserer Sprache breit. Es kann gar nicht kurz und knapp genug zugehen, auch wenn die Klarheit damit manchmal zum Teufel geht.

Ganz besonders geeignet scheint hierfür das Wörtchen „gefühlt“ zu sein. Wenn da eine Journalistin von einer „gefühlt zentnerschweren Tür“ schreibt, meint sie nichts anderes als dass die Tür den Eindruck machte, Zentner zu wiegen und entsprechend schwer zu öffnen war.

In Wirklichkeit steckt hinter der „gefühlt zentnerschweren Tür“ aber etwas anderes: eine Mode. Ganz plötzlich, sozusagen über Nacht, ist „gefühlt“ das Wort der Wörter.

Plötzlich ist alles „gefühlt“ – die soziale Kälte, die Streitkultur, die Bedrohung und weiß der Himmel was sonst noch. Eine Mode, eine Marotte, etwas, das sich hoffentlich bald wieder aus unserem Sprachgebrauch verabschiedet. Dabei ist die Sache ursprünglich gar nicht verkehrt.

Das Thermometer – ganz gleich, ob es nach Celsius oder Fahrenheit misst –, zeigt sozusagen objektive Werte, zum Beispiel fünf Grad minus, fünf Grad also unter dem Gefrierpunkt (nach Celsius). Das ist kalt. Aber wir empfinden das nicht immer als kalt. Drei Grad plus bei heftigem Wind empfinden wir möglicherweise als viel kälter.

Wirklichkeit und Gefühl können sich also ganz deutlich unterscheiden. Die gefühlte Kälte ist eine ganz andere als die tatsächliche Kälte.

Das ist doch aber kein Grund, nun alles nach „gefühlt“ und „tatsächlich“ zu unterscheiden. Soziale Gerechtigkeit, zum Beispiel – was immer das sein mag – ist, ob gefühlt oder nicht gefühlt, nichts, womit wir etwas anfangen können. Weder die gefühlte noch die andere gibt es.

* Auch früher war die Welt nicht in Ordnung. Das sollten wir nicht vergessen. Vor allem sollten wir nicht versuchen, sie in Ordnung zu bringen. Das bringt nur Unglück. Beispiele dafür gibt es genug. (Hitler, Stalin, Mao Tse tung, Pol Plot, Ceausescu usw. usw.