Sonntag, April 30, 2006

Kultur? Unsere Sprache steht auf dem Spiel

Es geht nicht nur um unsere Sprache. Es geht um unseren Verstand, um unser Verständnis der Welt. Das sieht alles sehr harmlos aus, ist es aber nicht. Wir sind von einer Pandemie bedroht, deren Folgen wir noch gar nicht übersehen - so groß sind sie.

Dabei dreht sich alles nur um das kleine Wörtchen Kultur, wobei einem zunächst nur so harmlose Sachen wie Kulturbeutel einfallen - ein Täschchen, in dem Zahnbürste, Zahnpasta, ein Stück Seife, ein Waschlappen und andere Kleinigkeiten Platz finden.

Das Wörtchen Kulturbeutel ist heute so gut wie unbekannt, und auch das Nachfolge- und Ersatzwort Reisenecessaire ist nicht mehr geläufig. In diesem Bereich findet Kultur offenbar nicht mehr statt.

Ehrlich gesagt, ist das hier nicht das Thema. Es geht um etwas wichtigeres. Es geht darum, wie wir mit unserer Sprache umgehen, wie wir mit uns selbst umgehen, ob wir uns mit schönen, geheimnisvollen Wörtern an der Nase herumführen lassen wollen, oder lieber nicht.

Auch wenn es so manchen vor dem Blick in das Wörterbuch gruselt, es lohnt sich: Kultur ist nach Wahrigs Wörterbuch die "Gesamtheit der geistigen u. künstler. Ausdrucksformen eines Volkes." Na bitte, Kultur hat einiges mit unserer Sprache zu tun, damit also, wie wir uns verständigen, wie wir uns verstehen - oder auch nicht verstehen.

Was jetzt folgt, ist eine Unverschämtheit, ist eine Gemeinheit, aber sie ist notwendig, weil die Dinge endlich einmal beim Namen genannt werden müssen.

Wie begegnet uns die "Gesamtheit der geistigen u. künstler. Audruckformen eines Volkes"? Das ist nicht so genau zu sagen, weil da zu viele unterschiedliche Kulturen auf uns einstürmen.
Die foldende Aufzählung ist umfangreich, aber mit aller Wahrscheinlichkeit nicht vollständig:

Leitkultur - Baukultur - Konsenskultur - Aktienkultur - Streitkultur - Unternehmenskultur -
Schuldzuweiungskultur - Erinnerungskultur - Minderheitskultur - Musikkultur - Rechtskultur - Sprachkultur - Toleranzkultur - Unterrichtskultur - Lernkultur - Sicherheitskultur - Betroffenheitskultur - Teilzeitkultur - Führungskultur - Kooperationskultur.

Dann gibt es noch Varianten: Kultur der Insolvenz, Kultur der Gewalt, Kultur des Respekts, Kultur der Anstrengung, Kultur des Rücktritts. Im Grunde ist es ein und dasselbe:

Die Bequemlichkeit, die Faulheit, nach dem richtigen Wort zu suchen und mehr noch die Absicht, nicht alles so genau zu sagen, dass man später an der Nase gefasst werden könnte.

Frage: Ist das nicht alles menschlich? Ist das nicht alles ganz normal? Ja, natürlich ist es das. Aber ebenso normal ist es, das zur Sprache zu bringen und nicht auf sich beruhen zu lassen. Recht und Unrecht. Es gibt beides. Dem Unrecht freien Lauf zu lassen, ist nicht in Ordnung.

Also: Nicht die Fäuste ballen, sondern den Mund aufmachen und sagen, was Sache ist. Nicht besoffen reden und schreiben lassen von allen möglichen "Kulturen", sondern fragen, was gemeint ist und auf einer Antwort bestehen - auf einer Antwort, die die Frage beantwortet und nicht nur - wie üblich und von Politikern eingeübt - nichtssagend ist.