Montag, April 24, 2006

Wer viel ließt, ist schlauer

24. 04. 2006

„Wer viel ließt, ist schlauer.“ (Badische Zeitung) Den Schreibfehler, den wir der sogenannten Rechtschreibreform verdanken, mal beiseite gelassen: Stimmt es, dass derjenige klüger ist, der viel liest?

Lassen Sie uns versuchen, darauf eine Antwort zu finden. Was habe ich denn heute gelesen? Die folgende Aufzählung ist nicht vollständig, aber sie genügt, um einer Antwort zu kommen:

Präsident Putin ist zwar kein lupenreiner Demokrat, aber er bringt Russland auf Kurs, nicht nur zum Vorteil des eigenen Landes. (Roger Köppel in „Respekt vor Russland“, DIE WELT, 24. 04. 2006).

„Wenig Interesse an Ganztagsschulen.“ Der Beitrag schmeißt mit Zahlen der Statistik nur so um sich, und alles sieht ganz traurig aus. Über die Gründe, über die Hintergründe wird nichts gesagt.

„Gewalt unter Betrunkenen?“ Seit Tagen ist „die Republik“ in heller Aufregung. Fremdenfeindlichkeit, Hass auf Ausländer und was weiß ich. Vielleicht war wirklich alles „eine ganz alltägliche, wenn auch traurige Affäre.“ Es wäre nicht der erste Fall, in dem Besoffene einen Besoffenen totgeschlagen haben. Trotzdem: Das Öffentlliche Deutschland im Aufruhr. Wann werden wir endlilch normal? Vielleicht nie, weil „wir“ sechs Millionen Juden, Sinti und andere Menschen umgebracht haben.

„Chefsache Integration“, „Steinbrück besteht auf Steuererhöhung“, „Gazprom drängt nach Deutschland“, „VW-Betriebsrat zu längerer Arbeitszeit bereit“, „der HSV patzt und wird wohl nicht Deutsche Meister“, „Ex-Senator Kusch rechnet mit CDU ab“, „Nicht Größe zählt, sondern Erfahrung und gute Ideen“ (sagt die Hamburger Werbeagentur MKK, und ist damit alles andere als originell). „Unterschätzte Diven“, ein Versuch der Wiedergutmachung an Doris Day und Katharina Valente.

So viel habe ich heute gelesen, wenigstens überflogen. Wahrscheinlich war das noch nicht alles. Bin ich nun schlauer? Nein, und wenn doch, dann nur ein bisschen. (Den Fernseher hatte ich gar nicht eingeschaltet. Das wäre wirklich zu viel des Guten gewesen.)

Wir haben es hier mit einem Problem zu tun, das nicht so einfach zu erkennen ist, das wir aber nicht unterschätzen sollten: Wir lesen, hören und sehen viel mehr, als wir verarbeiten können.

Wir fühlen uns informiert (in welche Abgründe uns Gefühle führen können, hat jeder von uns schon mal erlebt), aber wir wissen nichts, jedenfalls nicht Genaues, nichts, was wir nachprüfen könnten. Wir schlingen die Nachrichten in uns hinein, ohne sie zu verdauen. Was bleibt uns auch anderes übrig? Am nächsten Morgen wird ja schon wieder serviert – reichlich, überreichlich.

Dazu kommt eine aufregende Entdeckung: das Gefühlte. Celsius und Fahrenheit nennen, soweit naturwissenschaftlich möglich, die Lufttemperaturen, bei denen wir eine Gänsehaut bekommen oder uns die Schweißperlen von der Stirn tropfen. Das ist dann die Realität. Aber es gibt nocht eine andere Dimension, die Gefühlte. Wenn mir fünf Grad minus wie 20 Grad minus vorkommen, dann gelten die sibirischen 20 Grad minus. Es geht doch nichts über Gefühle.

Und so ist es auch mit den Informationen. Viele von ihnen sind gefühlt. Die Wirklichkeit ist anders.

War das nicht immer so? Ja, so wird es auch in der Vergangenheit gewesen sein. Aber da hatten wir noch nicht die globalisierte Informationstechnologie, die uns mit Nachrichten zuschüttet und uns immer ratloser, immer hilfloser macht, so dass uns zum Schluss nur noch das Glauben übrig bleibt, oder das Nichtglauben und das Misstrauen.

Gibt’s ein Rezept? Gibt es eine Möglichkeit, dieser Art von Globalisierung entgegen zu wirken, zu entkommen? Die einzige, die mir im Augenblick einfällt, ist die Beschränkung, die Beschränkung auf das, was einem wirklich wichtig ist.

Die Zeit der Universalgenies der vergangenen Jahrhunderte und Jahrtausende ist vorbei; sie waren überzeugt, das Universum zu kennen und ahnten nicht, dass ihnen das meiste verborgen war.

Diese Art von Unkenntnis und Unverstand teilen wir allerdings mit den Genies, die vor uns waren.

Wer wenig liest, ist schlauer.