Sonntag, April 30, 2006

Nichts hat sich gebessert, 2

Als ich zur Schule ging, war ein Fehler ein Fehler, egal, was für ein Fehler es war. Irgendwann hat sich das geändert. Schreibfehler, zum Beispiel, werden nicht mehr als Fehler gezählt, jedenfalls nicht ganz.

Der Weg vom formalen (Schreib)fehler zum inhaltlichen (Denk)fehler war nicht weit.

Die Ergebnisse lesen wir jeden Tag in der Zeitung:

„Und so zog der Kanzler gestern einen Triumph aus dem Ärmel.“ (Hamburger Abendblatt, 13. November 2002, Seite 4). Günther Hörbst, der Artikelschreiber, hat in der Schule nicht aufgepaßt.

Wie wenig er gelernt hat, zeigt sich einige Zeilen weiter. Da liest es sich: „Haider spukte erwartungsgemäß Gift und Galle...“

Zugegeben: Herr Haider spukt hier und da wie ein schrecklicher Geist, aber in diesem Fall dürfte er gespuckt haben, was nicht gerade fein ist. Aber was ist an Herrn Haider schon fein?

Wohin wir auch springen, von diesem oder von einem anderen Thema, wir springen mitten in irgendeine Kultur.

Von Kulturen gibt es heute mehr als genug. Sie hängen einem geradezu zum Halse heraus – weil: Was immer wir tun, es ist Kultur!

Wir streiten uns? Dafür brauchen, dafür haben wir eine Streitkultur.

In unserem Unternehmen haben wir ein paar Spielregeln? Das nennen wir Unternehmenskultur.

So wie die Technik zur Technologie nach oben geredet und geschrieben wurde, so wird einfaches, normales Verhalten zu Kultur hochstilisiert.

Da steht in der WELT, WR6 vom 14. 11. 2002: „Baukultur aus Stahl – Ingenieure und Architekten setzen beim Bau von Brücken wieder auf mehr Ästhetik und erinnern sich der großen Vorbilder aus dem 19. Jahrhundert.“

Wie wollen wir diesen Wahnsinn, diesen Unsinn noch steigern?

Vielleicht gar nicht, wenn uns noch ein Funke Verstand bleibt. Gemeint ist doch – hoffentlich – nichts anderes als dies: Stahl ist ein moderner Werkstoff, der unserem Einfallsreichtum und unseren Fähigkeiten entspricht wie kaum ein anderer.

15. 11. 2002

Führwahr, wir sollten nicht alles für wahr und richtig halten, was die Zeitungen uns vorsetzen. Die Pinneberger Zeitung schreibt auf Seite 3 ihrer Sonnabend/Sonntagausgabe vom 16./17. November: „Und führ wahr: Aus dem ‚Mops‘ von einst ist ein wandelndes Anschauungsobjekt für den Biologieunterricht geworden...“

DIE WELT läßt sich in ihrer Ausgabe vom 16. 11. nicht lumpen; Seite 23, Sport, Sven Ottke – „Und die Vitrinen sind auch notwendig, weil mein Sohn Marc-Steffen (wird im Dezember ein Jahr alt, d. Red.) so langsam seinem Entdeckerdrang nach kommt.“

Du lieber Himmel! Es geht hier um das Verb nachkommen und nicht um das Tuwort kommen. Man sollte beispielsweise seinen Pflichten nachkommen und nicht jeder Schürze nachlaufen (oder nach laufen?).

Ich sehe es noch kommen, daß wir früher oder später folgenden Wörtern begegnen werden: Der Nach Fahre, das Vor Kommnis, der Spät Entwickler, die Früh Geburt, das Nest Häkchen. – Warum eigentlich nicht? Das gibt doch immer wieder neuen Gesprächsstoff, nicht nur hier zu Lande, sondern bestimmt auch zu Wasser und in der Luft.

Gleich zu Anfang sagte Ursula Schmidt, eine neue, alte Bundesministerin, sie wolle einen Schwankungskorridor (der Rentenversicherung) auf den Weg bringen.*

Das versuche ich mir jetzt klarzumachen. Meine Schwankungsbreite scheint beträchtlich zu sein. Jedenfalls fühle ich mich sehr unsicher.

Kein Wunder; denn einen Schwankungskorridor kann es eigentlich nur in Erdbebengebieten geben, eben dort, wo auch Korridore schwanken. Ob es in der Politik nur Erdbebengebiete gibt? Ob dort immer alles schwankt? Hin und her, aber niemals her zu mir? Wer weiß die Antwort?

Das ist aber bloß die eine Hälfte der nicht nur sprachlichen Katastrophe. Die andere: Wie bringe ich denn einen Korridor – mag er schwanken oder nicht – auf den Weg? Und wenn es mir gelingen sollte – auf welchen Weg?

Ich nehme mich jetzt einmal zusammen und überlege, was die Ministerin Ursula Schmidt gemeint haben könnte. Es wird mir schwerfallen, aber ich überlege.

Vielleicht hat sie sagen wollen: „Alles schwankt hin und her, aber ich will es trotzdem in den Griff bekommen.“ Könnte sein, nicht wahr?

Vielleicht hat sie gemeint: „Ich weiß auch nicht genau, wie sich die Dinge entwickeln, aber ich will dafür sorgen, daß sie uns keine neuen Probleme bereiten.“ Klingt nicht schlecht, ziemlich ehrlich sogar. Ob sie das wirklich gemeint hat?

Dagegen spricht, daß sie einen Schwankungskorridor auf den Weg bringen will. Dazu braucht es wahrscheinlich ganz neue Techniken; denn bisher hat das noch niemand geschafft, ja nicht einmal versucht. Wäre ja auch blöd, so etwas Wahnsinniges zu probieren.

Also noch einmal: Vielleicht hat Ursula Schmidt etwas ganz Einfaches sagen wollen, das jedem einleuchtet, wenn auch nicht gefällt, vielleicht dies:

„Ich weiß auch noch nicht genau, wieviel teurer die ganze Angelegenheit wird,, aber um ein paar hundert EURO pro Jahr werden wir wohl kaum herumkommen.“

(„Wir“, das sind die dummen Arbeitnehmer. Ursula Schmidt gehört ja eher zu denen, die Arbeit geben, betroffen wird sie von den Regelungen, die sie verkündet, wohl kaum sein.)

Müßte sie da nicht ehrlicherweise sagen: „Paßt mal auf, Ihr dürft nicht über Eure Verhältnisse leben, das verbietet sogar die Bibel, und Karl Marx sowieso, Ihr müßt Euch einschränken, bescheidener werden, weniger Ansprüche stellen. Überhaupt: Macht Euch nicht so breit.“

Aber das traut sie sich nicht.

Sie hat Angst, daß wir ihr das übelnehmen könnten. Und genau das würden wir tun, wenn wir verstünden, was sie wirklich meint. Aber wir verstehen Ursula Schmidt ja gar nicht. Wir wollen nicht wirklich wissen, was sie sagt, wir wollen nur glauben. Ach du liebe Güte, wir dummen Schafe, wir recht geschieht uns!

„kontraproduktiv“ – ein bei Politikern außerordentlich beliebtes Wort, um Vorschläge, Anregungen, Äußerungen der Gegenseite schlecht zu machen. Auch Industrie- und Gewerkschaftsfunktionäre benutzen dieses Wort gern. Nur in Disputen zwischen Eheleuten oder Freunden, unter ganz „normalen“ Menschen, kommt dieses Wort nicht vor. Warum nicht? Was sagt es? Und was sagt es nicht?

Ich fange mal mit „produktiv“ an, vielleicht bringt das Licht ins Dunkel.

Produktiv erklärt Wahrig’s Wörterbuch wie folgt: „Produkte hervorbringend, schöpferisch, fruchtbar;...“ Na gut, manchmal sind Wörterbücher etwas altmodisch; man kann sie ja auch nicht jeden Tag neu drucken, das Mundwerk ist da allemal schneller.

Bevor ich den Sprung zu „kontraproduktiv“ mache, noch eine kleine Überlegung dazwischen: Nicht alles ist produktiv, ist schöpferisch; manches bewirkt gar nichts, bringt nichts von der Stelle.

Aber „kontraproduktiv“? Das klingt wie Unkrautvernichtungsmittel. Damit wird nicht etwa gesagt, daß die Sache nichts nützt, damit wird behauptet, daß alles ins noch viel Schlimmere verkehrt wird.

Na ja, so viele Gedanken werden sich die Anwender des Wörtchens „kontraproduktiv“ nicht machen. Hauptsache, dieser verbale Faustschlag trifft den Gegner mit voller Wucht am Kinn.

Wenn wir die Aufgabe hätten, „kontraproduktiv“ aus unserem Wortschatz zu streichen und statt dessen andere, einfachere, genauere Wörter zu benutzen, was würde uns da einfallen? Vielleicht dieses:

Das ist Unsinn. Das führt zu nichts. Das bringt uns zurück, aber nicht weiter. Das ist der vollkommene Blödsinn. Dümmer geht es wohl nicht. Damit wird alles nur noch viel schlimmer. Das ist ein vollkommen ungeeigneter Vorschlag. Das macht alles kaputt.

Ach, es gibt viele Möglichkeiten zu sagen, daß man von diesem oder jenem Vorschlag nichts hält. „Kontraproduktiv“ dürfte die allerdümmste sein; aber sie ist so griffig, weil so unverbindlich. Politik läßt grüßen.

Schnittmenge (f. Mengenlehre) die zwei oder mehr Mengen
gemeinsam zugehörigen Mengenbestandteile

So Wahrigs Wörterbuch, anscheinend von einem Mengenlehre-
buch abgeschrieben.

Man muss dreimal lesen, mindestens, um ungefähr zu begreifen,
was gemeint.

Ein für Politiker hervorragend geeignetes Wort, um das, was sie
sagen, undeutlich zu machen – so ein richtiges Schleierwort.

Da reicht bei einem Thema die Schnittmenge nicht. Gemeint ist:
Wir sehen die Dinge sehr unterschiedlich. Oder: Wir kommen da
nicht auf einen Nenner. Oder: Wir können uns da nicht verständigen.
Oder: Wir haben unterschiedliche Auffassungen. Oder: Da stimmen
wir kaum überein.

Jeden Satz würde jeder verstehen. Bei der „Schnittmenge“ ahnt man
nur, was gemeint ist.

Ich würde gern einmal – gemeinerweise – wissen, wie viele Politiker
die Mengenlehre begriffen haben, eine Politiker-Farce der 70er, die
nicht nur den Kindern, sondern auch den Eltern, nicht zuletzt den
Lehrern unnütze Kopfschmerzen gemacht hat. Das einzige Überbleibsel,
fast hätte ich geschrieben Relikt, ist die Politiker-Mengenlehre, die
allerdings eher an eine Mengenleere oder eine Menge Leere denken lässt.

Schoolworkerin. Unsere Sprache lebt sich zu Tode.

Unsere Sprache ist so lebendig wie nur irgendwas. Täglich kommen neue Wörter hinzu, andere gehen verloren. Das ist ganz normal. Das war schon immer so.

Und doch ist heute etwas anders. Das Gefühl für unsere Sprache geht immer mehr verloren. Abgebrüht wie wir sind und dementsprechend bedenkenlos greifen wir auf das Englische zurück – und verfälschen es zum Gotterbarmen.

Dabei fängt alles ganz harmlos an. Das Wort Streetworker übernehmen wir anstandslos, vielleicht, weil wir das Wort Sozialarbeiter nicht mögen. (Ein Straßenarbeiter, der die Straße pflastert, ist ja offensichtlich nicht gemeint.)

Von einem Schoolworker (vielleicht der Pedell aus der Feuerzangenbowle?) war bisher nicht die Rede. Aber am 10. März dieses Jahres tauchte das Wort Schoolworkerin auf. Es wurde schwarz auf weiß gedruckt.

Eine Workerin. Etwas ganz neues. Eine Sensation. Eine außerordentliche Erfindung. Ja, wirklich: etwas ganz Neues: Die workerin.

Im Englischen gibt es das weit und breit nicht, nur bei uns. Kreatives Deutschland!


PS: Wie weit es der leichtfertige Umgang mit unserer Sprache gebracht hat? Noch viel weiter als bis zum unverständigen und großenteils unverständlichen Gebrauch des Englischen.

Das fing aber schon im Deutschunterricht an – zugegeben vor ziemlich vielen Jahren.

Da war von Tätigkeits- oder Tuwörtern die Rede, von Selbstlauten und Mitlauten, also Vokalen und Konsonanten. Das ging damals ziemlich durcheinander. : Mal hieß es so, mal anders.

Eigentlich war es so wie es heute ist: Niemand sieht so richtig klar.

So kommen wir zu Goethe und Schiller zurück. Sie schrieben, wie es ihnen passte. Wichtig war, was sie zu sagen hatten. Die Form war nicht so wichtig. Auf ihre Grammatik pfeifen wir, auf das, was sie uns gesagt haben, nicht.

Ganz zum Schluss zum Sprachsumpf, durch den wir uns heute kämpfen müssen:
Überall wird gewunken. In den Zeitungen, den Zeitschriften, im Fernsehen. Versteht denn niemand, wie weh das tut?

Es gibt da in der deutschen Grammatik einen kleinen, aber wichtigen Unterschied, den zwischen starken und schwachen Tätigkeitswörtern (Verben). Das liest sich dann so:

Sinken, sank, gesunken Oder – besser in diesem Fall: Stinken, stank, gestunken. Das ist wie sinken ein starkes Verb. Das kann man sozusagen riechen.

Aber: Winken, wank, gewunken? Ist das richtig? Prüfen wir das mal. Ich winke, ich winkte, ich habe gewinkt, ich werde winken, ich werde gewinkt haben, usw.

Wissen Sie, was mir da einfällt? „Winke, winke, winke winke, mit den Händen, mit den Augen, mit dem Mund.“