Mittwoch, März 01, 2017
Vielleicht ist uns der Gesunde
Menschenverstand noch nicht ganz abhanden gekommen. Aber so richtig wollen wir
ihm nicht mehr vertrauen. Woran liegt das? Versuchen wir, der Sache auf den
Grund zu kommen.
Wenn wir vom Gesunden
Menschenverstand sprechen, dann meinen wir unsere Erfahrungen und die
Erfahrungen, die unsere Eltern und Großeltern und andere uns vertraute Menschen
an uns weitergegeben haben. Das gilt für gute wie für schlechte Erfahrungen.
Sie helfen uns, den Weg durchs Leben zu finden.
Nun ist die Welt von ihrer
dörflichen Abgeschiedenheit, der Nähe unmittelbarer Erfahrungen, längst
weltweit entfernt. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als auf Erfahrungen von
Menschen zurückzugreifen, die wir nicht kennen und nie kennenlernen werden. Das
ist nicht einfach. Aber wir wissen uns zu helfen: Wir bauen eine Brücke von
unseren Erfahrungen hinüber zu denen anderer Men-schen. Diese Brücke heißt
Vertrauen. Wir betrachten die Erfahrungen anderer Menschen als unsere eigenen.
Das ist nicht ganz ungefährlich.
Aber das müssen wir in Kauf nehmen. Jeder von uns hat schon erfahren, dass
nicht jedes Vertrauen gerechtfertigt ist. Auch das gehört zu unseren
Erfahrungen. Das sagt uns schon der Gesunde Menschen-verstand.
Zusammengefasst: Bisher
beschäftigten wir uns mit Erfahrungen, dem Gesunden Menschenverstand erster und
zweiter Ordnung. Beide müssen sein. Aber jetzt kommt etwas ganz anderes ins
Spiel.
Zu den eigenen Erfahrungen und
denen der Menschen, die unser Vertrauen verdienen (es geht nicht um blindes
Vertrauen), kommt ein Drittes: Glauben. Glauben hat etwas Religiöses, und das
hat sich bisher immer als ein großes Unglück herausgestellt, nicht zuletzt in
der Politik.
Glaubensseligkeit in der Politik
verdirbt den Charakter, von allem anderen abgesehen. Glaubensseligkeit macht
blind. Und sie macht blindwütig. Das ist gefährlich; denn die Wut treibt den
Verstand in die geistige Wüste, aus dem der Verstand nicht mehr herausfindet.
Die Folgen sind unabsehbar.
Was sich wie die Nachtgedanken
eines Melancholikers liest, beruht auf einer wahren Begebenheit, die sich in
diesen Tagen zugetragen hat.
In einer kleinen und
unbedeutenden Stadt unserer Provinz betritt ein wohl-situierter Bürger, dem
Bildungsferne so fern ist wie vielleicht der Mond, ein Bildungsbürger also,
einen Laden. Er verbringt eine halbe Stunde mit dem Studium des Angebots und
wählt mit Kennerschaft aus, was ihm gefällt – sehr zur Zufriedenheit des
Ladenbesitzers.
In dieser halben Stunde nehmen
die Fragen nach Qualitäten und Preisen nur die geringste Zeit in Anspruch. Das
Bedürfnis des Kunden, seine politischen An-sichten des Langen und Breiten zu
schildern, ist grenzenlos. Es geht, wie könnte es heute anders sein, um „The
Donald“, um Donald Trump, den 45. Präsidenten der Vereinigten Staaten von
Amerika. Es geht um alles. Und alles und jedes ist nicht etwa ironisch gemeint.
Es ist die Überzeugung des wohlsituierten Bildungsbürger einer kleinen und
unbedeutenden Stadt unserer Provinz. Und das hört sich so an:
„Obama-Regierung hat das Word Trade Center in die Luft gesprengt. Zwei
60 Kilo schwere ‚Atombomben‘. Trump, der ja Architekt ist, sagt, dass die
Gebäude durch Flugzeugangriffe in dieser Form nicht hätten einstürzen können.
Ein befreundeter Mann aus B., der zufällig dabei war, also beim Untergang der
beiden Gebäude, hat berichtet, dass das Metall noch Tage später geglüht hat.
Außerdem seien Messungen durchgeführt worden, die eine extrem hohe
Radioaktivität angezeigt haben, was ein Beweis ist.“
„Obama ist schwul, seine Frau transsexuell.“
„Obama ist Anführer der amerikanischen Muslima-Bewegung, hat die ganze
Bürokratie damit unterwandert. Deshalb würden momentan jeden Tag 300
Mitarbeiter verhaftet.“
„30 % der unter Obama arbeitenden Regierungsmitarbeiter, aber auch viele
Abgeordnete gehören dem größten Pädophilen-Ring der Welt an. Deshalb auch dort
jeden Tag Verhaftungen.“
„In 40 europäischen Städten herrscht Bürgerkrieg.“
„In Schweden herrschen Chaos und
Gewalt. Muslimische Einwanderer sind schuld.“
„Grippeimpfstoffe enthalten Quicksilber – gesundheitsgefährdend.“
„Der Autismus nimmt rasant zu – von einem Verhältnis 10.000 zu 1 auf inzwischen 20 zu 1. Schuld
daran: die Chemie in Lebensmitteln und Kosmetikprodukten.“
„Einen Klimawandel gibt es nicht, Punkt, aus, fertig.“
Alles das hat unser
Bildungsbürger nicht selbst erlebt. Er hat es gelesen. Irgend-wo. Er glaubt es. Er ist überzeugt davon, obgleich alles zu
widerlegen ist. Wir müssen akzeptieren,
dass der Glaube Berge versetzt, in diesem Fall: den Verstand verrückt. Ein
„verrückter“ Verstand ist der Wirklichkeit, ist den Tatsachen, nicht zugänglich.
Wir sollten uns auf die Dauer mit
diesem Befund nicht abfinden. Aber lassen Sie uns einen ersten Schritt tun: Was
steckt hinter dem irgendwo? Woher
hat unser Bildungsbürger sein „Wissen“? Woher bezieht er seine Wahrheiten?
Da hätten wir zunächst den
TV-Sender Fox News, Lieblingssender des US-Präsidenten. Auf die News dieses
Senders bezieht sich „The Donald“, wie ihn viele Amerikaner nennen, gern und
nachdrücklich, so schräg sie auch sein mögen.
Dann geht es ohne Punkt und Komma
weiter: Breitbart news Deutschland, Lifezette.com, Gatewaypundit.com,
infowars.com (Alex Jones, „The Donald“-Einflüsterer), newsmax.com, newsmax.de,
John Birch Society (Westernheld John Waine war Mitglied der Society),
epochetimes.de.
Das sind nicht alle Quellen der
wahren Lügenpresse, die hier sprudeln. Das Magazin Compact dürfte sich dazu
zählen, Die Junge Welt – um nur zwei Bei-spiele zu nennen. Wer die Unwahrheit
sucht, hat viele Möglichkeiten.
Und wer wissen will, was stimmt?
Der hat noch ein paar Möglichkeiten mehr. DER SPIEGEL, STERN, SÜDDEUTSCHE, FAZ,
DIE WELT, TAZ, DER FREÍTAG und noch so
einiges mehr. Alle ohne Fehl und Tadel?
Nein, natürlich nicht. Irrtümer sind inbegriffen, aber keine Lügen.
Zum Umgang mit diesen beiden
Welten eine Frage: Sollten wir nur lesen, was unserer Meinung entspricht? Oder
sollten wir auch das lesen, was uns gegen den Strich geht?
Alexander von Humboldt hatte da
seine eigene Anschauung: „Die
gefährlichste aller Weltanschauungen ist die Weltanschauung von Leuten, die die
Welt nie angeschaut haben.“
PS: Noch einmal zurück zu irgendwo.
Wir haben jetzt nicht nur eine Ahnung davon, woher unser Bildungsbürger sein „Wissen“
bezieht: Aus der Lügenpresse, die für sich die Wahrheit beansprucht.
Dort hat er gelesen, was seinem
Weltbild entspricht. Das kann ihn nicht
klüger machen. Wir müssen befürchten, dass er damit nicht allein ist. Befürchten
ja. Aber fürchten sollten wir uns nicht. So ein kleines bisschen Mut kann doch
jeder von uns aufbringen. Die geballte Faust in der Tasche genügt nicht.
Deshalb: Mund aufmachen. Bestimmt geht es besser als dieser kleine, schüchterne
Versuch.
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