Freitag, Februar 17, 2017

Unser zweites Deutsch

Vielleicht haben Sie noch nie etwas von einer zweiten deutschen Sprache gehört, und doch gibt es sie. Sie begegnet Ihnen jeden Tag. Es ist nicht die Sprache, die Sie zu Hause und in der Schule gelernt haben. Es ist nicht die Sprache, die Sie sprechen und schreiben und verstehen. Es ist ein anderes Deutsch, eine zweite deutsche Sprache. Es ist POLLY, die PolitikerLyrik. Sie müssen diese Sprache weder sprechen noch schreiben. Aber Sie sollten sie verstehen. Das wird Sie vor vielen Missverständnissen bewahren. Endlich werden Sie verstehen, was Politiker (und Manager) Ihnen nicht sagen wollen. Dafür müssen Sie natürlich die Vokabeln kennen und wissen, was sie meinen.

Fangen wir mit einer Auswahl an, die sich beliebig erweitern ließe. Alle Wörter sind Ihnen nicht nur einmal begegnet. Sie werden Ihnen auch morgen begegnen. Haben Sie immer gewusst, was gemeint war?

Stabilitätsanker, Wachstumsmotor Zielkorridor, Leuchtturmprojekt, Prüfstand, Fokus, Fußabdruck, Nullwachstum, Flexibilitätskompromiss, Achtsamkeitspraxis,  Roadmap, Einsatzschwelle, Mandat, Transparenz, Handlungsbedarf, Integration, Rahmenbedingungen, Gestaltungsspielraum, Einkommensspreizung, demografie-feste Reserve, Äquivalenzprinzip, Konsens, Output, Work-out-Programm, working culture, Chill-out-Lounge, Diversity-(Managerin), clean-desk-policy – systemrelevant, systemisch, robust, belastbar, disruptiv, authentisch, ergebnisorientiert,  selbstbestimmt, – implementieren, generieren, sanktionieren, instrumentalisieren, verzwecken, verorten, beschulen., ….
  
Hand aufs Herz! Schreiben oder sprechen Sie so? Wahrscheinlich nicht. Wenn Sie etwas einordnen, sagen Sie dann „ich verorte das“?  Wenn Sie ein robuster Mensch sind, also jemand, der etwas aushält, dann sind Sie belastbar, dann kann man Ihnen beispielsweise Verantwortung aufbürden. Dummerweise haben pfiffige Köpfe, die etwas verstecken möchten, dem Wörtchen belastbar eine ganz andere Bedeutung gegeben. Wenn sie von belastbaren Zahlen sprechen, dann meinen sie zuverlässige Zahlen. Genau das aber wollen sie nicht sagen.  Dafür gibt es zwei Gründe. Entweder hat man keine zuverlässigen Zahlen, verlangt sie aber. Oder man hat sie und will nicht damit herausrücken  

Gesetzt den Fall, Sie möchten einen neuen Arbeitsablauf einführen, dann werden Sie doch nicht sagen: „Jetzt wollen wir mal einen neuen Arbeitsablauf implementieren“ – oder? Überlegen Sie mal: Wann haben Sie das letzte Mal diesen Begriff benutzt? Haben Sie das Wort überhaupt schon mal in den Mund genommen?

Als Sie neulich mit Freunden über ein strittiges Thema sprachen, haben Sie da einen Konsens erreicht? War es ein konsensuales Gespräch? Und haben es alle ergebnisoffen geführt? Vielleicht waren Sie zum Schluss nicht einer Meinung, stimmten nicht überein. Aber auf den Gedanken, dass Sie nicht zu einem Konsens gekommen sind, darauf sind Sie sicherlich nicht gekommen. So sprechen Sie einfach nicht. Warum sollten Sie auch?

Auf so schiefe Sprachbilder wie Stabilitätsanker und Wachstumsmotor wollen wir gar nicht mehr eingehen. Das wäre wirklich zu albern. Genauso wie der Gestaltungsspielraum, der Handlungsbedarf, die Rahmenbedingungen. Alles Wörter, die vor allem eins sind: aufgeblasen und angeberisch.

Und dann die schrecklichen Versuche, bildhaft zu sprechen. Dieses ausgesprochen lächerliche Spiel mit dem Wort Standbein. Wenn ein Unternehmen sich einem neuen Markt mit neuen Produkten zuwendet, dann schafft sie sich ein neues Standbein. Und dann ein weiteres und noch eins und noch eins. Das Unternehmen als Tausendfüßler? Fast könnte man das glauben, wenn es nicht so doof wäre. Manchmal stehen wir mit beiden Beinen fest auf der Erde (meist heißt es dann „auf dem Boden der Tatsachen“. Manchmal stehen wir etwas lockerer da, verlagern das Gewicht auf ein Bein, das Standbein, das andere bleibt locker, beweglich und ist das Spielbein. Standbein und Spielbein. Viele Unternehmen haben das nicht begriffen und wundern sich, wenn sie über ihre vielen Standbeine ins Stolpern kommen.

„Ein relaxtes Gefühl“? Ein entspanntes Gefühl, warum nicht einfach entspannt? Warum so viele unnötige Worte? Warum so gespreizt? Wie zum Beispiel Herr de Maizière, der meinte, etwas „mit großer Vorsicht“ sagen zu müssen. „Sehr vorsichtig“ hätte es auch getan.

Ich muss zugeben, dass sich auch die Presse an diesem Spiel beteiligt. Was soll ich davon halten, wenn SPIEGEL ONLINE sich selbst als „meinungsstark“ bezeichnet. Was ist „meinungsstark“? Darüber muss ich noch etwas länger nachdenken