Sonntag, November 06, 2016
Vielleicht gibt sie gar nicht. Vieles spricht für
diese Ansicht. Beispiel: Ist es gerecht, allen Menschen ein-und-dasselbe
Einkommen zuzubilligen, ganz gleich, ob sie arbeiten oder nicht? Einen Anspruch
auf Leben hat doch jeder. Oder? Manche werden sagen, ja, das ist gerecht.
Andere werden sagen, das ist ungerecht.
Gerechtigkeit ist Gefühlssache,
und auf Gefühle kann man sich nicht verlassen. Auf den vermeintlichen Verstand
allerdings auch nicht.
Erkenntnis: Wenn wir versuchen
wollen, der Gerechtigkeit auf den Grund zu kommen, müssen wir in die
Einzelheiten gehen. Wir müssen uns ansehen, was als gerecht angesehen wird und
was als ungerecht. Und wir müssen darauf achten, wer das Eine und wer das
Andere sagt.
„Vor der Jahrtausendwende haben
Vorstandschefs in großen Unternehmen vielleicht das Zwanzigfache von einfachen
Arbeitnehmern verdient. Heute erhalten sie oft das Hundertfache.“ „Die da oben“
und „die da unten“ waren mit dem damaligen Verhältnis wohl einverstanden.
Heute fällt es schwer zu
begreifen, wofür Martin Winterkorn, bis vor Kurzem noch der erste Mann im
VW-Konzern, in einem Jahr 17 Millionen € erhielt. Ausgerechnet der Mann, der
den Konzern in eine Krise führte, deren Folgen noch nicht abzusehen sind. Der
Konzern muss zig Millionen für seine Betrügereien zahlen. Der Image-Verlust ist
noch gar nicht zu beziffern. Das ist die eine Seite. Und die andere?
Als Herr Winterborn gefragt
wurde, ob ein VW-Arbeiter am Band solche Gehälter noch verstehe, reagierte er
ungehalten. Für ihn war die Sache klar und gerecht. So schwierig ist das mit
der Gerechtigkeit.
Das ändert sich offenbar auch
nicht, wenn wir uns ansehen, wie sich Reichtum und Armut in Deutschland
verteilen (DIE ZEIT, 22. September 2016 „Gerechtigkeit“). 10 % der Bevölkerung
gehören 60% des Gesamtvermögens. 40 % der Bürger gehören 38 %. Und die
verbleibende Hälfte der Bevölkerung? Ihr bleiben nur 3 % des Vermögens. Ist das gerecht? Das kann man gerecht finden, wenn man
vermögend ist. Wer nicht dazu gehört, sieht das anders, ver-ständlicherweise.
Gerechtigkeit scheint so unfassbar zu sein wie ein Stück
Seife, das ins Wasser gefallen ist. Immer, wenn wir denken, jetzt haben wir
alles im Griff, flutscht uns die Gerechtigkeit aus den Händen.
Wie widersprüchlich alles ist,
zeigen uns auch die Verhältnisse in den USA. „Armes Land, reiches Land“ –
dieser Beitrag im HANDELSBLATT vom 2.
November führt uns das deutlich vor Augen.
„Armes Land, reiches Land“. „Das
Märchen von der Gerechtigkeit“ – Kein Staat hat die Finanzkrise besser
überwunden als Amerika.“ Amerika habe seit dem Absturz der Weltwirtschaft ein
kleines Wirtschaftswunder vollbracht, schreibt das HANDELSBLATT, fragt ein paar
Zeilen weiter „Aber woher kommt dann dieses Gefühl der Verwundbarkeit in der
Bevölkerung, woher die grassierende Angst vor dem ökonomischen Niedergang…“ und
fährt dann fort: „Womöglich hängt das mit der dritten großen Schwäche der
US-Wirtschaft zusammen: ihrer Unfähigkeit, die Wohlstandsgewinne gerecht zu
verteilen. Das Hauptproblem der USA ist und bleibt die zunehmende Ungleichheit
von Einkommen, Vermögen und letztlich von Lebenschancen.“ Womöglich? Nein, ganz
bestimmt!
„In den USA leiden die unteren 90
Prozent unter stagnierenden Einkommen. Das mittlere Einkommen
vollzeitbeschäftigter männlicher Arbeitnehmer“ sei inflationsbereinigt
niedriger als vor 42 Jahren. Und ganz unten seien die Real-löhne mit dem Niveau
von vor 60 Jahren vergleichbar – so Ökonomie-Nobelpreisträger Joseph Stiglitz.
Während viele Menschen von ihrer
Arbeit kaum mehr leben können, horten US-Konzerne Milliardenbeträge
steuerbefreit im Ausland. Der Internationale Währungsfonds stellt fest, dass
die zunehmende Ungleichheit den politischen Rückhalt für die liberale
internationale Ordnung gefährde. Welch eine Erkenntnis!
Wer es gern etwas dramatischer
hätte und doch seriös, lese „Stadt aus Glas“. DER SPIEGEL, 05. 11. 2016). Die
ersten Zeilen: „Gerechtigkeit. In der amerikanischen Gesellschaft wird die
Kluft zwischen Arm und Reich tiefer und tiefer. Die Mittelschicht schrumpft.
Ausgerechnet die Boomregion San Francicso ist zum Symbol für eine neue soziale
Spaltung in den USA geworden.“
Zusammengefasst, womit das letzte
Wort nicht gesprochen sein kann: Die liberale internationale Ordnung, von der
der Internationale Währungsfonds spricht, ist die Verniedlichung der
Globalisierung. Die wiederum verniedlicht das Unwort Raubtierkapitalismus.
Sozialismus pur? Vielleicht sogar
Kommunismus? Alles den Reichen nehmen? Alles den Armen geben? Das kann es nicht
sein. Das wäre ja nur die Umkehrung von heute: Alles den Armen nehmen und alles
den Reichen geben. Eine Ungerechtigkeit gegen die andere tauschen führt nicht
zu Gerechtigkeit.
Was nun? An den gesunden
Menschenverstand appellieren, ihm zu seinem Recht verhelfen und zugleich auch
der Gerechtigkeit? Das wäre schön. Dumm nur, dass jeder unter gesundem
Menschenverstand und Gerechtigkeit etwas anderes versteht. Mehr Mitgefühl, mehr Herz? Das Herz schlägt
links, was aber nicht sozialistisch heißen muss, auch wenn das gelegentlich
behauptet wird. Kein zuverlässiges Konzept also.
Wie wäre es mit Fantasie, wenn
wir unsere Gedanken von der Leine ließen? Wenn wir sie wie die Spürhunde nach
dem Wichtigsten suchen lassen? Vielleicht stoßen wir bei dieser Suche auf
Schiller und Beethoven: „Freude, schöner Götterfunken…“
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