Freitag, Oktober 16, 2015

Der schwierige Umgang mit dem Vorurteil

Der Anstand gebietet es, erst dann ein Urteil zu fällen, wenn man sich eine Sache genau angesehen, gedreht und gewendet, von allen Seiten betrachtet und gewissenhaft untersucht hat. Dann kann man sich ein Urteil erlauben. So einfach ist das. Oder vielleicht doch nicht?

Nein, so einfach ist es nicht. Nicht immer haben wir die Möglichkeit, den Dingen in allen Einzelheiten auf den Grund zu gehen. Die Folge: Da wir uns kein genaues Urteil bilden können, machen wir uns die Sache leicht und bilden uns ein Vorurteil.

Das ist dann so eine Mischung aus Erfahrung, eigenen Beobachtungen und dem, was man so gehört und gelesen hat. Diese Mischung ist nicht ohne, weil da viel Unbekanntes verquirlt ist, Erfahrung und Hörensagen sich nicht voneinander trennen lassen.

Manchmal allerdings ist der Fremdanteil in dieser Mischung so hoch, dass sich das Vorurteil selbst infrage stellt. Kaum jemand wird glauben, dass alle Deutschen Pedanten sind, alle Franzosen leichtlebig, alle Italiener feurige Liebhaber – oder sind es die Spanier? So ein bisschen mag überall dran sein, was deshalb nicht so schlimm ist, weil hier Grenzen eingehalten werden.

Anders sieht es aus, wenn behauptet wird, alle Polen seien faul, alle Russen gewalttätig und alle Zigeuner (Sinti und Roma) klauten wie die Raben, alle Neger (Farbige, Schwarze) seien dumm. Das sind keine Vorurteile. Das sind Verleum-dungen. Das sind Gemeinheiten. So weit, so klar.

Nicht ganz so klar wird die Sache, wenn wir uns einem aktuellen Thema* zuwenden mit den Stichworten Pegida, Legida, Dresden, Leipzig, CDU und SPD.

Wie kommt es, dass Dresden die Pegida-Hochburg wurde und inzwischen außer Rand und Band ist, und Pegida-Anhänger mit Galgen durch die Stadt ziehen, die Frau Merkel und Herrn Gabriel zugedacht sind. Und wie ist es zu erklären, dass in Leipzig 5000 Pegida-Fanatikern und Anhängern 30.000 Leipziger gegenüberstehen, die sich gegen diesen Wahnsinn wenden?

Der Hamburger Abendblatt-Beitrag gibt Aufschluss. Zitat: „Leipzig ist das Anti-Dresden. Die Landeshauptstadt ist traditionell schwarz regiert, Leipzig seit der Wende von der SPD. Die Regierenden (in Leipzig) reden nicht mit den Vertretern von Legida. Bürgermeister Jung sagte, man werte Rassisten auf, wenn man sich mit ihnen auf Augenhöhe an einen Tisch setze. Stojan Gugutschkow kann viel davon erzählen, warum Leipzig anders ist. Er leitet seit 25 Jahren das Referat für Migration und Integration der Stadt. Früher als andere Städte sei man den Kampf gegen Rechtsextreme mit einer Fachstelle angegangen. Schon 2012 habe Leipzig ein Konzept für die Unterbringung von Flüchtlingen ausgearbeitet. Die Hälfte der Asylsuchenden sei in Privatwohnungen untergebracht.“

Das alles hat Dresden nicht gemacht. Kaum jemand hat das gemacht, und schon gar nicht „die Schwarzen“. Bis heute Morgen haben sie sich gesträubt, in Deutschland ein Einwanderungsland zu sehen. Und jetzt steht alles kopf. Diesem Leichtsinn folgt der augenblickliche Wahnsinn, von dem niemand weiß, wie wir ihn bändigen können. Die bisherigen Versuche sind fehlgeschlagen und führten nur zur Verzweiflung nicht nur der Flüchtlinge, sondern auch ihrer Betreuer.

Das hat uns die Union, das haben uns „die Schwarzen“ eingebrockt. Dass „die Roten“ dagegen nicht Sturm laufen, erklärt sich aus der unseligen Großen Koalition. Ist das nun ein Vorurteil, vielleicht sogar eine Verleumdung?

Dass „die Schwarzen“ auch anders können, zeigt das kleine, tiefschwarze Quickborn. Politik und Verwaltung arbeiten nach dem Leipziger Muster – nicht mit Leipziger Vorlauf, sondern aus dem Stand heraus. Das ist dieser Provinzstadt hoch anzurechnen.

* Hintergrund des aktuellen Themas: „Mit Galgen gegen Politik und ‚Lügenpresse‘“ – Hamburger Abendblatt, 14. Oktober 2015.