Mittwoch, September 23, 2015

Sprachwanderungen

Kaum hatte ich dieses Wort notiert, fiel mir auf, fiel mir ein, dass dieses Wort zwei Bedeutungen hat. Ich meinte ursprünglich mein Wandern durch unsere Sprache, ein Wandern, das viel Freude macht, weil mir immer wieder Gedanken und Betrachtungen anderer Menschen begegnen. Viele von ihnen wissen mehr als ich, auf jeden Fall anderes. So kehre ich von jeder Wanderung bereichert zurück. Diese Wanderlust verdanke ich meinem Vater. Er hat die Liebe zur Sprache in mir geweckt.

Und die andere Bedeutung des Wortes? Die Sprache selbst wandert. Wörter verschwinden im Sprachgebrauch, andere kommen hinzu, und so manches Wort hat im Laufe der Zeit seine Bedeutung verändert.

Der Opportunist ist ein besonders packendes Beispiel. „Er ist der Inbegriff gefährlicher Prinzipienlosigkeit.“ Notiert Jonas Helbig in der ZEIT-Ausgabe von 10. September 2015 auf Seite 17. Ja, genau das bedeutete der Opportunist für mich bis ich Jens Helbigs Ausführungen las. Der Autor ergänzte seine Feststellung mit dem Satz „Dabei verkörperte er einst ein Ideal der Regierungskunst.“

Ich will einiges aus Jens Helbigs Schatzkästlein notieren, damit es mir nicht gleich wieder verloren geht.

Um 1870 Opportunist als neues Wort zum ersten Mal auf und hatte einen durch und durch guten Klang. Es stand, ganz und gar positiv, für die Kunst des Regie-rens. Louis Gambetta, „Führungsfigur der republikanischen Radikalen im Parlament“ bezeichnete damit sein Programm einer ‚Politik der Erfolge‘, einer ‚Politik der Ergebnisse. Opportunismus bedeutete in Gambettas Augen die Fertigkeit, unter sich ständig verändernden Gegebenheiten praktische, sprich am Möglichen ausgerichtete Politik zu betreiben.

Nach wenigen Jahren kippte die Bedeutung in Negative – aus welchen Gründen auch immer. Spätestens von 1880 an verstand man unter Opportunismus in Frankreich nicht länger eine kunstvolle Politik der Ergebnisse, sondern benutzte den Begriff als Schimpfwort. Dieses Schicksal teilt das Wort Opportunismus mit vielen anderen Wörtern. Die Bedeutungen wandern.

Besonders gefesselt hat mich der Ursprung des Begriffs, wie ihn Jens Helbig – ich denke, zutreffend – schildert:

„Der Begriff leitet sich von lateinisch ‚opportunus‘ ab (bequem, geeignet, gelegen, günstig oder passend), was wiederum auf ‚ob portum‘ zurückgeht, einen in der antiken Seefahrersprache verwendeten Ausdruck, der so viel wie ‚zum Hafen hin‘ meinte und einen günstigen, also in Richtung des Hafens wehenden Wind bezeichnete. Opportunismus ist so gesehen durchaus als Kunst zu verstehen, einen günstigen Moment abzupassen…“

Ich habe keinen Grund, Jens Helbigs Ausflüge in die verschiedenenen Politiken zu kritisieren – Marx, Lenin, Sozialdemokratie in ihren vielen Schattierungen, die „Wende“ 1989, die „Wendehälse“, Christa Wolf Ende 1989 – aber das war alles mal, mag für Historiker, Soziologen, Politiker interessant sein, nicht aber für einen Sprachwanderer.

Die abschließenden Gedanken von Jens Helbig sollte ich aber doch notieren; denn sie gehören nicht in die Vergangenheit, sondern haben ihre Bedeutung heute und morgen:

Die Geschichte des Opportunismus „lenkt den Blick auf eine Frage, die in einer komplexer werdenden Welt immer dringlicher wird und einfache Antworten ausschließt. die nach dem rechten Maß. Eine wirksame Politik wir denn auch nicht ohne die maßvolle Portion Opportunismus auskommen…“

Bleibt nur eine Frage: Was ist maßvoll?
21. 09. 2015