Samstag, Mai 16, 2015

Henne oder Ei?

Mir wird es nicht allein so gehen. Immer wieder stoße ich auf Geschichten, die mich an die Frage erinnern, was denn nun zuerst da war: die Henne oder das Ei. Oft bleibt es bei „ich weiß es nicht.“ Ob es auch in diesem Fall so sein wird?

In seinem Essay „Wir Live-Gläubigen“ (DER SPIEGEL  18/2015 vom 25. 04. 2015) schreibt Sascha Lobo eingangs „Auch wenn es gar nichts Neues mehr zu berichten gibt, giert das Publikum nach immer neuen Fakten. Das bedroht die journalistische Suche nach der Wahrheit.“

Donnerwetter! Das Publikum ist gierig, und die Journalisten suchen nach der Wahrheit. Ist das so?

Im ersten Augenblick dachte ich: Was für ein Quatsch! Hier die Bösen, das Publi-kum, dort die Guten, die Journalisten. Zweiter Gedanke: Ist vielleicht doch was dran? Ich will versuchen, der Sache auf den Grund zu gehen und fange beim Publikum, also bei mir, an.

Der Mensch ist von Natur aus neugierig. Das ist keine so dumme Angewohnheit. Je mehr man weiß, desto besser kommt man durchs Leben. Eine Überzeugung, der gern geglaubt wird, was hier aber nicht diskutiert werden soll. Eines jedenfalls scheint sicher zu sein: Der Wunsch, etwas Neues zu erfahren, und sei es vom anderen Ende der Welt, begleitet uns nicht erst seit der Erfindung der Zeitung, des Rundfunks, des Fernsehens. Und so ist es nicht unwahrscheinlich, dass aus einer verständlichen Neugier Gier wird. Na bitte, da haben wir es: Wir, das Publikum, sind die Bösen. Wenn ein Beweis vermisst werden sollte, hier ist er: Das ständige Gefummel an den Smartphones – der reine Offenbarungseid. Wir sind gierig darauf, in jeder Sekunde zu wissen, was läuft und hängen am Tropf.

Aber ist die Sache damit geklärt? Wollen wir uns wirklich bedenkenlos in die Arme der Journalisten werfen, die schreiben, schreiben, schreiben, nur um unsere Gier zu befriedigen, die Gier, die wir vielleicht gar nicht haben? Nein, so einfach wollen wir es uns nicht machen.

Nein, es muss unendlich viele Journalisten geben, die sich nicht auf der Suche nach der Wahrheit befinden, sondern auf der Jagd nach Sensationen, auch in privatesten Bereichen. Exhibitionisten finden sie überall – in der High Society ebenso wie in der Lower Society. Das mit der Wahrheitssuche ist also so eine Sache, der wir nicht über den Weg trauen sollten.

Zusammengefasst: Es gibt die Gier, von der Sascha Lobo schreibt. Die Gier des Pub-
likums, die Gier der Journalisten nach dem, was sie so gern Hype nennen. Und es gibt die journalistische Suche nach der Wahrheit. Das eine lässt sich nicht vom anderen trennen. Alles gehört zusammen. Das macht das Leben so spannend und rätselhaft.

Der wunde Punkt, auf den Sascha Lobo genau so umständlich aufmerksam macht wie ich: Wir sehen viel und wissen nichts. Wir sehen, wie zwei Flugzeuge in die Twin-Towers in New York fliegen. Wir sehen, wie verzweifelte Menschen sich aus hunderten Meter Höhe in den Tod stürzen – wir sehen, wir sehen und sehen und verstehen nichts. Wir hätten gern Erklärungen, aber die gibt es nicht. Wie sollte es auch? Erklärungen brauchen Zeit. Aber wer hat die schon?

Und so kommt es zu dem was Sascha Lobo beklagt: Wír erfahren, was passiert. Aber wir erfahren nicht, warum es passiert.

Vielleicht ist das gar nicht so schlimm. Wir können uns ja auch unseren eigenen Reim auf die Ereignisse machen. Wer sagt denn, dass die Medien klüger sind als wir?