Donnerstag, März 19, 2015

Schlussstrich

Nach einer Umfrage der Bertelsmann-Stiftung sind 77 Prozent der Deutschen dafür, „die Geschichte ruhen zu lassen“. 55 Prozent meinen, wir sollten endlich „einen Schlussstrich unter die Vergangenheit ziehen“. Fragt sich nur: Geht das überhaupt? Und wenn ja, wie?

Ich denke, es geht nicht. Was geschehen ist, ist geschehen. Ein Schlussstrich macht es nicht ungeschehen. Das Schändliche, das Entsetzliche bleibt, wie auch das Schöne, das Wertvolle. Wer würde unter unsere Klassiker, Goethe und Schiller und viele, viele andere, einen Schlussstrich ziehen wollen? Nicht einmal die, die niemals einen Blick in den „Faust“ oder „Wilhelm Tell“ werfen würden. Nicht einmal die.

Aber das Thema Auschwitz? Schlussstrich? Eigentlich zieht der sich von selbst. Die wenigen Überlebenden sterben dahin. Bald sind sie alle tot. Und mit den Tätern sieht es nicht anders aus. Ein, zwei, drei Jahre vielleicht, und auch sie sind dahin. Aus den Augen, aus dem Sinn? So einfach ist es nicht. Und der Autor des ZEIT-Beitrags vom 29. Januar 2015, „Neues Erinnern, 70 Jahre nach Auschwitz“, Heinrich Wefing, macht es sich nicht leicht.

Er stellt fest, dass sich die Art und Weise unserer Erinnerung verändert. Vergan-genheit wird anders sortiert, Wichtiges rückt in den Hintergrund, was mit Schlussstrich erst einmal nichts zu tun hat. „Erinnerung ist nichts Statisches, nichts Abgeschlossenes. Jede Generation hat einen eigenen Zugang zum Holocaust“, schreibt Heinrich Wefing und kehrt damit an den Anfang seines Beitrags zurück.

Dort notiert er: „Der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, Josef Schuster, hat gefordert, der Besuch eines ehemaligen KZs sollte in Zukunft für alle Schüler ab der neunten Klasse verbindlich werden.“ und schließt die Frage an: „Was bringt verordnete Erinnerung?“ Ich sage: Sie bringt bei den Schülern nichts außer Verdruss und Langeweile.

Heinrich Wefing spannt den Bogen weiter. Wie erinnert sich Deutschland? Wie erinnern wir Deutschen uns? Nicht wenige von uns stammen aus der Türkei, aus Spanien, Italien, aus Syrien, dem Libanon und wer weiß woher. Sie sind Deutsche mit einer anderen Vergangenheit, aber mit unserer Gegenwart. Wie sollen sie einen Schlussstrich ziehen?

Ein anderer Beitrag aus der ZEIT vom 29. Januar 2015 „Böhmen, Pommern, Syrien“ (Andreas Kossert) gibt scheinbar zusammenhanglos eine Antwort. Er erinnert an die 14 Millionen Flüchtlinge aus Ostpreußen, Pommern, Westpreußen, Schlesien, aus dem Baltikum, die in den Resten Deutschlands strandeten. Willkommen waren sie nicht. Im Gegenteil: Oft waren sie verhasst. Zigeuner wurden sie genannt, Gesindel. Im Emsland hieß es nach dem Krieg: „Die drei großen Übel, das waren die Wildschweine, die Kartoffelkäfer und die Flüchtlinge.“ Besatzungsoldaten mussten die Einheimischen nicht selten mit vorgehaltener Maschinenpistole zwingen, Familien bei sich aufzunehmen (Zitat aus dem ZEIT-Beitrag). Das ist mir erspart geblieben, aber die Zurückhaltung im Pastorat des mecklenburgischen Dörfchens, in dem wir untergekrochen waren, die war zu spüren. So richtig christlich war die Pastoren-familie nicht. Und die Hühner legten nur für die Bauern ihre Eier, nicht für uns.

Worauf der ganze Beitrag hinausläuft? Zwei Zahlen machen das deutlich: 2014 nahm das Bundesland Brandenburg 6.000 Flüchtlinge auf. Im April 1949 lebten dort 655.466 Vertriebene, ein Bevölkerungsanteil von 24,8 Prozent.

„Was, wenn heute die Deutschen gezwungen würden, Flüchtlinge in ihren behag-lichen Eigenheimen Obdach zu geben? Die bloße Vorstellung wirkte wie eine ungeheure Provokation“, so Andreas Kossert. (Allein in Quickborn mit 20.000 Einwohnern wären 20.000 Flüchtlinge unterzubringen und alle würden immer noch komfortabler leben als es 1945 möglich war.) An alles das sollten wir uns erinnern, wenn von Überfremdung, von Überforderung gesprochen, geschwafelt wird.

Deshalb: Keinen Schlussstrich ziehen! Keine Erinnerungen auslöschen! Herz zeigen!

PS: Wie listig Herzlosigkeit heute versteckt wird, zeigt folgende auf den ersten Blick so einleuchtende, aber in Wirklichkeit infame Überlegung: Einwanderung, pardon –Immigration? Klar doch! Aber wir wollen nicht alle. Nur die sind uns willkommen, die uns nützlich sind, Fachkräfte, die wir dringend brauchen, damit es uns weiter so gut geht wie bisher. Wir wollen nicht helfen, wir wollen uns selbst helfen. Also machen wir einen Unterschied zwischen guten und schlechten Einwanderern, Immigranten, Flüchtlingen. So richtig wie im Märchen: Die guten ins Töpfchen, also zu uns, die schlechten ins Kröpfchen, also sonstwohin. Dreitausend sind im letzten Jahr im Mittelmeer ums Leben gekommen.
19. 03. 2015