Dienstag, Februar 24, 2015

J'accuse. Ich klage an!

Dieser Aufschrei von Emile Zola, hinausgeschrien am 13. Januar 1898 auf der Titelseite von L’Aurore, der großen Pariser Zeitung, schoss mir durch den Kopf, als ich heute in SPIEGEL ONLINE die Nachricht las „94-Jähriger wegen Beihilfe zum Mord in Auschwitz-Birkenau angeklagt.“

Diese Anklage darf kein Ende nehmen. Das dachte ich. Das denke ich. Das werde ich immer denken. Aber gehören wirklich alle ins Feuer wie die sechs Millionen Menschen, die nur deshalb ermordet und zu Rauch und Asche verbrannt wurden, weil sie Juden waren?

Die schnelle Antwort: Ja. Wer schuldig wurde, muss angeklagt werden – jeder, jeder, jeder, auch der 94-Jährige. Wenn aber die schnelle, die eilige Antwort voreilig ist? Wir müssen uns das mal etwas genauer ansehen.

Der Angeklagte ist als 20-Jähriger in die Waffen-SS eingetreten, das war 1940. Sieben Jahre Nationalsozialismus waren vermutlich der Hintergrund für seine Entscheidung.

Er war in den Konzentrationslagern Dachau und Neuengamme stationiert, hat dort seinen Dienst gemacht. Woraus bestand dieser Dienst, seine Arbeit, was tat er?

Für die Zeit zwischen dem 15. August und 14. September 1944 in Auschwitz-Birkenau wirft ihm die Anklage die Beihilfe zum Mord in 3681 Fällen vor. Er habe als Sanitäter geholfen, die SS-Truppen einsatzfähig zu halten, so die Anklage. Er habe daneben gestanden, als die Menschen in die Gaskammern geführt wurden, und er habe gewusst, was mit ihnen geschehen würde. Das ist kaum zu bestreiten. Hätte er den Gang der Todgeweihten anhalten sollen? Wer von uns würde das tun?

Vielleicht hätte der Angeklagte nicht in Dachau und Neuengamme und in Auschwitz-Birkenau arbeiten müssen. Ob es ihn dahin drängte, ob er das wollte, niemand weiß es. Wahrscheinlich kennt nicht einmal er die Antwort. Auf jeden Fall sind an ihm vorbei 3.681 Menschen in den Tod gegangen. Er hat es nicht verhindert. Das ist die Anklage.

Wir sollten uns schämen! Wir sollten uns schämen, weil kein Staatsanwalt, kein Richter, die im „Dritten Reich“ anklagten und Recht sprachen, jemals zur Rechenschaft gezogen wurde. Das Gegenteil war eher der Fall. Im „Dritten Reich“ verurteilte Menschen standen nach dem Krieg plötzlich „Rechtsprechern“ gegenüber, die sie verurteilt hatten, also Rechtbrechern. So gut wie alle waren wieder in Amt und Würden, wie zum Beispiel der schreckliche Militärrichter Filbinger, der es später zum Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg brachte.

Wir sollten uns schämen. Und wenn wir Anklage erheben wollen, sollten wir uns genau überlegen, gegen wen. Die Feigheit, die Angst  vor der eigenen Vergangenheit sollte nicht der Maßstab sein.

Die Kleinen hängt man, die Großen lässt man laufen? Dann wollen wir doch mal so groß wie möglich werden.
23. 02. 2015