Dienstag, Februar 10, 2015

Achte deinen Nächsten wie dich selbst

Eigentlich heißt es „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“. Das will ich auch nicht infrage stellen. Aber ich halte „Achte deinen Nächsten wie dich selbst“ für eine notwendige Ergänzung. Notwendig, weil die Forderung nach Nächstenliebe fraglos viele Menschen überfordert, weil die Achtung des Nächsten leichter fällt – leichter fallen sollte. Wir werden sehen.

Vor allem werden wir sehen, dass das Zusammenspiel von Selbstachtung und Achtung vor dem Nächsten wenigstens genau so eng zusammenhängen und zusammenwirken wie Selbst- und Nächstenliebe. Und wir werden feststellen, dass der Appell „Achte deinen Nächsten wie dich selbst“ der Schlüssel ist für einen erfolgreichen Kampf gegen den um sich greifenden Terrorismus.

Der Appell stellt die Achtung des Nächsten in den Vordergrund. So sieht es auf den ersten Blick aus. Dieser erste Blick ist allerdings zu oberflächlich. Wichtige Voraus-setzung ist die Selbstachtung, ist das Vertrauen in sich selbst. Nur wer selbst etwas von sich hält, kann auch von anderen etwas halten. Nur wer sich selbst einen Wert zubilligt, wer an sich glaubt, kann sich auch dem anderen, seinem Nächsten, zuwenden. Wer sich selbst für wertlos hält, wer kein Selbstvertrauen hat, kann auch seinem Nächsten nicht vertrauen. Er betrachtet ihn mit Misstrauen, aus dem, wie wir sehen, abgrundtiefer Hass wird bis zum Mord. Die Charlie Hebdo-Morde sind einer der schrecklichen Beweise.

Wie sollst du an dich glauben, wenn du wegen deines türkischen Vornamens keinen Job bekommst, egal wie tüchtig du bist? Wie sollst du an dich glauben, wenn du überall auf Misstrauen stößt, nur weil du ein Muslim bist? Wie sollst du an dich glauben, weil du die falsche Hautfarbe hast? Woher sollst du Mut fassen, wenn du nicht als Einwanderer gesehen wirst, sondern als Eindringling? Wie willst du damit fertig werden, wenn du immer zurückgestoßen wirst?

Irgendwann ist dir alles scheißegal. Irgendwann hast du keinen Bock mehr darauf, der Bettler zu sein. Irgendwann akzeptierst du, der Untermensch zu sein. Irgendwann wirst du unmenschlich (siehe Charlie Hebdo).

Irgendwann kommt der Augenblick, der dir das Ganze leicht macht. Du triffst jemanden, der dir einen Ausweg zeigt, den einzigen. Im Handumdrehen wirst du ein Fanatiker, wirst Terrorist. Du hattest nichts zu verlieren. Jetzt kannst du gewinnen, was du immer gewinnen wolltest: Anerkennung, die Achtung der anderen. Der Untermensch ein Held, das ist deine neue Rolle. Bis dass der Tod euch scheidet.

Wenn wir diese Tragödie beenden wollen, unter der zum Schluss alle leiden, dann müssen wir der Forderung folgen: „Achte deinen Nächsten wie dich selbst!“ Wie das geht?

Viele tausend Schritte werden notwendig sein. Der erste könnte dieser sein: Hören wir auf zu sagen „die Türken, die Muslime, die Juden, die Asylanten, die Sachsen, die Dresdner“ usw. usw. usw. Jeder Deutsche nimmt für sich in Anspruch, ein Individuum zu sein, bei aller Ähnlichkeit mit vielen anderen Deutschen unverwechselbar. Hören wir also auf, andere über einen Kamm zu scheren. Uns gefällt das auch nicht, weil es unsere Selbstachtung infrage stellt.

Ein lachhaft kleiner Schritt? Ja, ein lachhaft kleiner Schritt, aber der erste. Die folgenden dürfen dann ruhig größer sein und müssen bis in den grauen Alltag hinein wirken. 26. 01. 2015