Mittwoch, November 12, 2014

"Damit Küken nicht als Abfall enden"

Hamburger Abendblatt 10. November 2014, Seite 17

Wie weit wir durch unsere Fresssucht geistig verwirrt sind, wie sehr wir unmenschlich geworden sind durch unseren unersättlichen Appetit auf das tägliche Stück Fleisch, wie weit wir uns von den Gesetzen des Lebens und des miteinander Lebens entfernt haben, macht dieser Abendblatt-Beitrag in erschreckender Weise klar. Wir müssen nur ein wenig langsamer lesen als sonst, etwas aufmerksamer und dann ein bisschen nachdenken. Also los!

„Männlicher Legehennennachwuchs wird jährlich millionenfach getötet.“
Das ist grauenvoll. Das dürfen wir nicht zulassen. Das können wir mit unserem christlichen Gewissen nicht vereinbaren. Dagegen müssen wir etwas tun. Nicht irgendwann, sondern jetzt. Das ist der erste Gedanke.

Dann der zweite Satz: „Ein deutsches Forschungsvorhaben zeigt jetzt Alternativen auf.“

Gott sei Dank, es geht also doch anders. Wir müssen die kleinen Kerlchen, die sich durch die Eierschale ins Leben picken und dummerweise ein Hähnchen werden sollen, nicht mehr wahllos ums Leben bringen, bevor es richtig beginnt.

Wie die deutsche Wissenschaft festgestellt hat, geht es auch anders. Die sogenannte Nah-Infrarot-Raman-Spektrokopie erkennt schon nach drei Tagen, ob ein männliches oder weibliches Küken heranreift. So könnte man schon die Eier sortieren und nicht erst die geschlüpften Küken. Die Sache soll kostengünstig sein.

Im zweiten Verfahren wird anders vorgegangen. Erst der neunte Brutschranktag gibt Hinweise auf Henne oder Hahn. Das ist teurer, aber man glaubt, die Kosten wieder reinholen zu können.

In einem unterscheiden sich die beiden Verfahren nicht: Sie sind jenseits von gut und einfach nur böse. Mord ist Mord.

Und dieser Mord wird uns als Alternative serviert. Wer soll sich da schämen? Der Schreiber oder der Leser?

„Wir retten die Hähnchen“ ist die Botschaft. Aber wovor will unsere Wissenschaft sie retten? Wo ich zu Tode komme, ist egal – im Ei, nach dem Schlüpfen oder nach einem hühnchen-hähnchen-qualvollen Leben in industrieller Massentierhaltung?

Erschreckend ist die Eiseskälte, mit der dieser Abendblatt-Beitrag abgefasst ist. Ich zitiere:

„Deutsche Hennen erzeugen gut 13 Milliarden Eier.“ Erzeugen? Die Hennen legen Eier, aber sie erzeugen sie nicht. Haarspalterei? Sieht so aus, ist es aber nicht. Das Natürliche wird zum Produktionsvorgang erniedrigt:  Eierproduktion.

„Hochleistungshennen legen bis zu 320 Eier im Jahr und werden geschlachtet, wenn die Leistung abfällt – meist nach gut einem Jahr. Sie taugen dann nur noch für Hühnersuppe oder als Tierfutter.“

Der Wahnsinn geht weiter. Es gibt nicht nur Hochleistungshennen, wir haben da auch noch Zweitnutzungsrassen:

„Die Henne legt pro Jahr respektable 250 Eier, bleibt aber hinter den Hochleistungsrassen zurück, die gut 300 Eier schaffen. Die Hähne sind einem (ebenfalls langsam wachsenden) Standard-Masthahn im Fleisch-ansatz unterlegen. Werden sie nach 70 Tagen geschlachtet, liefern sie zwei Kilogramm schwere Braten, während die hochgezüchteten Konkurrenten ein Schlachtgewicht von 2,8 Kilogramm (Abendblatt: 2800 Kilogramm) erreichen. (Die 2800 Kilogramm wären natürlich ein Traum.) Beides ist nicht zu verwechseln mit schnell wachsenden Ein-Kilo-Hähnchen, die nur 30 Tage alt werden.“

So geht das nicht nur bei uns in Deutschland zu. „Auch in der Schweiz macht die Rasse (Zweitnutzungsrasse) Karriere. Coop-Sprecher Urs Meier: ‚Die Kunden haben uns zum Engagement gratuliert. Die zweite Serie ist bereits in Produktion.“

11. 11. 2014