Sonntag, November 17, 2013

Sprechstunden

Woran denken wir, wenn das Wort Sprechstunde fällt? Meistens wohl an einen Termin beim Arzt oder bei einer Behörde. Jede dieser Sprechstunden-Stunden hat 60 Minuten. Manchmal kommen sie uns wie eine Ewigkeit vor, aber das ist ein anderes Thema.

Außer der gewöhnlichen 60-Minuten-Stunde gibt es noch andere. So ist die Schulstunde meistens kürzer, hat nur 45 Minuten. Daran haben wir uns gewöhnt. Vielen von uns dürfte dagegen nicht bekannt sein, dass es auch noch eine „Bonner Stunde“ und eine „Berliner Stunde“ gibt und dass diese Stunden unterschiedlich lang sind.

Die „Bonner Stunde“ hatte 1990/1994 66 Minuten, danach bis 2002 68 Minuten. Dann schlug die „Berliner Stunde“. Sie war bis 2005 um 6 Minuten kürzer, also 62 Minuten, und von 2005 bis 2009 war sie mit 60 Minuten im Einklang mit unserer normalen Zeitrechnung.

Bevor sich jemand auf die Suche nach diesen sonderbaren Stunden macht: Sie sind die eigenartige Zeitrechnung des Deutschen Bundestages. Die Damen und Herren des Bundestage nehmen es mit der Zeit nicht so genau, könnte man meinen, auf die eine oder andere Minute scheint es ihnen nicht anzukommen. Weit gefehlt!

Damit endlich zum Stichwort „Sprechstunde“. Die Sprechstunden müssen zwischen den Parteien natürlich aufgeteilt werden. Jede Fraktion muss zu Wort kommen. Die Aufteilung ist eine einfache Angelegenheit. Bei 5 Fraktionen hat jede 12 Minuten Zeit, ihre Anliegen vorzutragen, bei 4 Fraktionen wären es sogar 15 Minuten, die Normalstunde mit 60 Minuten vorausgesetzt.

Aber so einfach ist es im Deutschen Bundestag nicht. Einfallsreich, wie man ist („Bonner Stunde“. „Berliner Stunde“ anstelle der Normalstunde), verteilt man die Redezeit nach der Größe der Fraktionen. Je größer eine Fraktion, desto länger ist ihre Redezeit – auch wenn sie gar nichts zu sagen hat. Die Folge: die gerade regierenden Parteien haben Oberwasser, die Opposition hat Mühe, den Kopf über Wasser zu halten, hat kaum Zeit, den Mund aufzumachen.

Das fiel bisher nicht so auf. Aber bei der zurzeit zu befürchtenden Großen Koalition zwischen Union und SPD (eine 80 %-Mehrheit – 503 von 630 Sitzen) wird die Opposition sprachlos. Von den 60 Minuten der „Berliner Stunde“ gehören 48 Minuten der Regierung und nur 12 Minuten der Opposition (je 6 Minuten für Die Linke und Die Grünen).

Hier entscheidet die Masse, nicht die Klasse. Und das ist nicht in Ordnung. Selbst der intelligenteste Vorschlag der Opposition wird hier platt gemacht. Ach was, er kommt überhaupt  nicht zur Sprache.

Was ich befürchtete, wird  kommen: Eine Diktatur in einem lustig flatternden Demokratie-Mäntelchen. Sage bitte niemand, das sei übertrieben. Die SPD hat schon Entgegenkommen signalisiert, und auch die Union zeigt Verständnis für die kaum noch vorhandene Opposition.

Entgegenkommen? Schon dieses Wort zeigt eine Überheblichkeit, die unsere immer noch nicht gefestigte Demokratie ruinieren wird.