Samstag, Februar 18, 2012

Kann denn Sprache Sünde sein?

Ja, das kann sie. „Schuldentragfähigkeitsanalyse“ ist so ein sündhaftes Wort. Soll von Herrn Schäuble kommen. „Prüfen wir mal, ob der Schuldner seine Schulden wirklich abtragen kann.“ Das ist wohl gemeint. Aus diesem einfachen Satz machen wir dann eine „Schuldentragfähigkeitsanalyse“. Grund genug, dieses Wort für das nächste „Unwort des Jahres“ vorzumerken.

Ähnlich geeignet als Unwort des Jahres dürfte „Schattenwurf“ sein. Dafür gibt es allerdings andere Gründe. In diesem Unwort kommt unser Egoismus treffend zum Ausdruck.

Zur Erklärung: Den Schatten werfen, für den Schattenwurf verantwortlich sind die modernen Windmühlen, mit denen Strom erzeugt wird, den wir alle brauchen. Dumm ist nur, dass die „Flügel“ dieser Windmühlen – sofern die Sonne scheint – Schatten werfen, nicht nur einen, sondern ganz viele – im Minuten- oder sogar im Sekundentakt. Das ist natürlich außerordentlich störend für alle, die in der Nähe des Schattenwurfs, der Schattenwürfe, leben.

Können wir da nicht zu einem Kompromiss kommen? Wie wäre es, wenn sich die Windmühlen nur nachts bei Neumond, wenn es total dunkel ist, drehen dürfen. Dann können sie keine Schatten werfen. Vielleicht könnte man sogar so weit gehen, dass die Windmühlen auch bei bedecktem Himmel arbeiten dürfen; die geworfenen Schatten dürften da nur ein Schatten ihrer selbst sein und kaum jemanden stören.

(Einwurf: Ich weiß nicht, weshalb mir jetzt ein ganz anderer Wurf einfällt: der Faltenwurf. Natürlich könnte ich jetzt herumalbern und von Wurfball – spielten wir im Sportunterricht in der Schule – oder auch vom Maulwurf sprechen. Ach, da gäbe es noch ganz andere Möglichkeiten. Das alles will ich mir verkneifen.)

Weiter im Text!

„Hab isch gesehen mein Kumpel“ überschreibt Uwe Hinrichs seinen Essay im SPIEGEL vom 13. Februar. (Untertitel: „Wie die Migration die deutsche Sprache verändert hat“.)

„mit diesen Problem“, „aus den Lager heraus“, „wer soll den neuen Kabinett angehören“, „wir haben hier ein Rest“, „ich mach dir kein Vorwurf“ – das alles und noch mehr wird vor allem gesprochen, kommt inzwischen aber auch in Examens-arbeiten vor, also schriftlich. Junge Leute wissen oft gar nicht mehr, wie es einmal korrekt lautete. („mit diesem Problem“, „aus dem Lager“, „ wer soll dem neuen Kabinett angehören“, „wir haben hier einen Rest“, „ich mache dir keinen Vorwurf“.)

Da kann Herr Hinrichs erklären so viel er will. „Hinter dem, was Puristen als Verfall, ja als Verlotterung anprangern, steckt nur die Strategie, die Sprachstrukturen zu vereinfachen, um das Kommunizieren mit Nichtmuttersprachlern zu erleichtern.“ – Schreibt Herr Hinrichs. Das mag so sein, aber Sprachsünden sind das in jedem Fall. Und die, finde ich, müssen nicht sein.

Alles läuft darauf hinaus, wer sich wem anpasst. Der Alphabet dem Analphabeten oder umgekehrt? Das muss jeder für sich entscheiden. Glücklicherweise müssen wir nicht so schreiben wie offenbar mit „Nichtmuttersprachlern“ gesprochen wird.

Das würde sich dann so lesen: „Ich weiß nicht, wo die gibs“, was heißen soll: „Ich weiß nicht, wo es das gibt.“ Eine Linguistin, die sich mit dem „Kiezdeutsch“ in Berlin befasste – mir ist der Name entfallen – hat diese Sprechweise notiert. So muss ich nicht sprechen – und schreiben schon gar nicht.

Wenn ich einfach denke, einfach spreche und einfach schreibe, wird man mich verstehen – nur vielleicht die Linguistin nicht, die von Systematizität schrieb. Wer soll das verstehen?

Wieviel Vergnügen intelligente Sprache bereiten kann, zeigt eine englische Parole, die auf einer Demonstration gegen das leichtfertige ACTA-Projekt durch die Gegend getragen wurde: „ Respect Existence or Expect Resistance“.