Mittwoch, Februar 08, 2012

Anstand? Dass ich nicht lache!

Mit dem Anstand dürfte es ein für alle mal vorbei sein. Die letzten Meldungen* aus der Wirtschaft machen das deutlich. Aber was heißt Anstand? Anstand ist, wenn man das nicht tut, was sich nicht gehört. Wenn man nicht lügt, nicht betrügt und sich nicht auf Kosten seiner Mitmenschen bereichert. Die Herausforderung der „10 Gebote“ will ich mal beiseite lassen und damit auch den lieben Gott und alle anderen Götter und ihre Propheten auch.

Es gehört sich nicht, sich auf Kosten anderer zu bereichern. Es gehört sich nicht, die Notlage anderer auszunutzen. Es gehört sich nicht, den Gewinn eines Unternehmens höher zu bewerten als das Einkommen und damit das Auskommen seiner Mitarbei-ter. Aber alles das, was sich nicht gehört, wird gemacht. Nicht die Sonne, sondern der SPIEGEL bringt es mit seinem Beitrag „Moderne Sklaven“ an den Tag.

Nachdem der Missbrauch der Leiharbeit einigermaßen eingedämmt wurde, wird diese Art der Ausbeutung durch das System der Werkverträge fortgesetzt. „In den sächsischen Fabriken von Porsche und BMW sind festangestellte Mitarbeiter bald in der Minderheit, etwa die Hälfte der Beschäftigten dürften mittlerweile über Werk-verträge in den Fabrikhallen sein. – Bei BMW sind inzwischen 26 Dienstleistungs-unternehmen als Werkvertragpartner registriert, wie Thyssen-Krupp Automotive oder Wisag. – Wisag…entsendet rund 400 Mitarbeiter zu BMW und Porsche. Bei BMW schrauben sie Achsen zusammen, wenige Meter von den festangestellten Mit-arbeitern entfernt, aber für bis zu 1000 Euro brutto weniger im Monat. Dabei ist die Wisag kein direkter Vertragspartner von BMW, sondern vonThyssen-Krupp Automotive, der Leiharbeitsfirma, die von BMW engagiert wurde.“

„Bei Audi in Ingolstadt arbeiten in der Entwicklungsabteilung rund die Hälfte der Ingenieure auf Werkvertragbasis, schätzt die IG Metall. Sie verdienen bis zu 800 Euro weniger im Monat, müssen 40 statt 35 Stunden arbeiten, zahlen in der Kantine das Doppelte und gehen bei Prämienzahlungen leer aus.“

Der SPIEGEL Beitrag endet mit einem ganz besonders bösen Bubenstück. Bedingung einer Ausschreibung für den Bau eines Wohnparks in Heidelberg war: keine Werk-
verträge. Nach Monaten fand sich ein Unternehmen, das diese Bedingung akzeptier-te. Na bitte, könnte man jetzt sagen, es geht doch. Aber: die Firma hatte alle festen Mitarbeiter von anderen Baustellen für dieses Projekt abgezogen „und dort komplett durch Werkverträge ersetzt“.

„Frei schwebend in der Wolke“ heißt der Beitrag in der SPIEGEL Ausgabe 6 vom 6. Februar, der die eben notierte Geschichte fortsetzt.

„Der Software-Konzern IBM plant eine Radikalreform seiner Belegschaft. Ein internes Papier zeichnet die Blaupause für die Arbeitswelt von morgen: Kleine Kernmannschaften dirigieren ein Heer freier Mitarbeiter – weltweit.“

„Das Papier beschreibt einen Konzern in Auflösung. Zigtausende feste Beschäfti-gungsverhältnisse könnten bei IBM abgebaut werden. Übrig bleiben soll eine Kernbelegschaft, ‚zur Aufrechterhaltung der Kundenbeziehungen’. Eine möglichst kleine Truppe von Festangestellten soll das Unternehmen steuern und managen.“

„Die meisten Mitarbeiter… sind von Nigeria über Finnland bis Chile weltweit in einer sogenannten globalen Talent Cloud verstreut und werden in sich verändernden Verbünden für einige Tage, Wochen, Monate oder Jahre für bestimmte Projekte angeheuert.“

Das ist eine raffinierte Form der Sklaverei. „Arbeitsverträge sollen – anders als heute – nicht mehr auf regionalen Vereinbarungen aufbauen. Im IBM-Modell gibt es stattdessen ‚globalisierte Arbeitsverträge’. Auf diesem Weg kann die nationale Arbeitsgesetzgebung umgangen werden, ebenso wie nationale Lohnregelungen und geltende Tarifverträge.“

So geht das pausenlos weiter, jede Einzelheit unanständiger als die andere. Zum Schluss heißt es: „An die Stelle staatlicher Vorschriften treten die Spielregeln privater Konzerne.“

Kapitalismus pur? Auf jedenfall der blanke Egoismus der Unternehmen.

Wird das gut gehen? Auf die Dauer wohl nicht. Wenn nicht genug Geld verdient wird, kann auch nicht genug ausgegeben werden. Wenn die Reichen (die reichen Unternehmen) nur einem Heer von Armen gegenüberstehen – wer soll dann ihren Reichtum mehren? Von den Armen wird nichts zu erwarten sein. Sie haben ja nichts. Die Reichen haben ihnen ja alles genommen.

* DER SPIEGEL 5/30. 01. 12 und 6/6. 2. 12