Samstag, Februar 04, 2012

Wirtschaftswunderland

So gut wie allen Ländern in Europa geht es schlecht; den einen mehr, den anderen weniger, aber den meisten mehr. Zu hohe Schulden, zu viele Arbeitslose, eine schwächelnde Wirtschaft.

Unter den wenigen Ausnahmen ist Deutschland die größte. Das liegt nicht nur an der Tüchtigkeit, wie gern behauptet wird. Kein anderes Land in der EU hat auch nur annähernd so viele Bürger und so viele Menschen, die mit ihrer Arbeit Werte schaffen. Da kommt eine Menge zusammen. Deutschland, der Wirtschaftsmotor der EU! Deutschland muss die marode EU-Wirtschaft aus dem Schlamassel ziehen! Das klingt logisch. Aber ist es das auch?

Heiklen Fragen begegnet man am besten mit einer Gegenfrage. Das ist ein bewähr-tes Konzept. Also: Was heißt eigentlich Deutschland?

Es ist ja nicht Deutschland, das hier ein vermeintliches Wunder bewirkt, es ist ja nicht der Staat. Es sind die so ungefähr 40 Millionen Frauen und Männer, die jeden Tag zur Arbeit gehen und – hoffentlich – ihr Bestes geben. Auf jeden Fall versuchen sie es.

Es sieht so aus, als würden sie für diesen Versuch, als würden sie für ihre Arbeit bestraft. Und es sieht nicht nur so aus, es ist so. Dafür gibt es stattliche – pardon – staatliche Gründe. Die Lobby macht es möglich.

Der Mindestlohn für ehrliche Arbeit? Die Lobby und die von ihr gewonnenen Politiker haben etwas dagegen. (Es gibt inzwischen Ausnahmen, aber die lösen das Problem nicht.) Die Folge: Wenn das Hungergeld fürs Leben nicht reicht, dann gibt es Unterstützung vom „Staat“.

Verzeihung! Das ist gelogen. Das ist nicht der „Staat“. Wir Steuerzahler subventio-nieren die Unternehmen, die Hungerlöhne zahlen. Wir sorgen – ahnungslos – dafür, dass clevere Unternehmer uns ausnehmen wie die berühmte Weihnachtsgans.

Zu dumm, die Geschichte geht, so blöd wie sie ist, weiter. Da hätten wir das Thema
Leiharbeit. Das war ein blühendes Geschäft und ist es immer noch, obgleich es inzwischen eine neue und genau so gute Gelegenheit gibt. („Nach dem Missbrauch der Leiharbeit suchen viele Arbeitgeber das nächste gesetzliche Schlupfloch, um weiter Lohndumping zu betreiben.“ DGB-Chef Michael Sommer.)

Statt der Leiharbeit jetzt Werkverträge. Das ist die neue Masche. Wie das geht, zeigen Ausschnitte aus „Moderne Sklaven“, DER SPIEGEL 5/2012:

„Er (Gewerkschafter Bernd Kruppa aus Leipzig) befürchtet, das auch mit den Werkverträgen weitere Stammbelegschaften abgebaut werden. In den sächsischen Fabriken von Porsche und BMW sind festangestellte Mitarbeiter bald in der Minderheit, etwa die Hälfte der Beschäftigten dürften mittlerweile über Werkverträgen in den Fabrikhallen sein.“ (Die Rechtschreibfehler habe ich aus
dem SPIEGEL-Text übernommen.)

„Bei BMW in Leipzig sind inzwischen 26 Dienstleistungsunternehmen als Werkvertragspartner registriert, wie Faurecia, Thyssen-Krupp Automotive oder Wisag.

Wisag war einmal eine Gebäudereinigungsfirma, jetzt entsendet sie rund 400 Mitarbeiter zu BMW und Porsche. Bei BMW schrauben sie Achsen zusammen, wenige Meter von den festangestellten Mitarbeitern entfernt, aber für bis zu 1000 Euro brutto weniger im Monat. Dabei ist Wisag kein direkter Vertragspartner von BMW, sondern von Thyssen-Krupp Automotive, der Leiharbeitsfirma, die von BMW engagiert wurde.

Die IG Metall hat schon vor vier Jahren durchgesetzt, dass Leiharbeiter bei BMW den gleichen Lohn erhalten müssen wie Festangestellte. Thyssen-Krupp Automotive schickt allerdings kaum eigene Leute, sondern holt sie sich über Werkverträge bei der Wisag, für die der Tarifvertrag nicht gilt.

Bei Audi in Ingolstadt arbeiten in der Entwicklungsabteilung rund die Hälfte der Ingenieure auf Werkvertragsbasis, schätzt die IG Metall. Sie verdienen bis zu 800 Euro weniger im Monat, müssen 40 statt 35 Stunden arbeiten, zahlen in der Kantine das Doppelte und gehen bei Prämienzahlungen leer aus.

‚Audi hat erkannt, dass da etwas nicht stimmt’, sagt Johann Horn, IG-Metall- Bevollmächtigter in Ingolstadt und Aufsichtsratsmitglied des Autobauers. ‚Wir führen erste Gespräche mit Audi, wie wir das Problem beheben können’.“

Ist es nicht zum Verzweifeln? Und warum lassen wir unsere Politiker nach der Pfeife der Unternehmen tanzen? Was heute schon ungerecht ist, wird morgen zum Himmel schreien. Dann werden wir ein Millionenheer von Menschen habe, die „unterhalb der Armutsgrenze“ leben – wie das politisch korrekt heutzutage heißt. Nicht auszudenken, wenn die mal aufstehen und ihre Rechte einfordern, mit der Faust, mit Gewalt?!