Sonntag, Juni 12, 2016

Die gefühlte Welt


Es ist schon eine ganze Weile her. Da wurde ein unscheinbares Wörtchen auffällig: „gefühlt“.  Auf einmal tauchte „gefühlt“ überall und jederzeit auf. Da war die Rede von gefühlten 10 Grad, was die Temperatur anging, von einer gefühlten Ewigkeit. Und sogar von einem gefühlten Kontroll-verlust war die Rede. Alles war und ist plötzlich gefühlt, irgendwie. Das kam von heute auf morgen, sozusagen von einer Sekunde auf die andere. Niemand weiß genau, wie es dazu kam. Das „gefühlt“ war einfach da.

Geht es wirklich nur um etwas Gefühltes? Oder steckt mehr dahinter? Nehmen wir eine Erfahrung, die jeder von uns schon mal gemacht hat. Winter. Windstille Zwei Grad Minus.. Wir treten vor die Tür und finden es nicht besonders kalt.
 
Noch einmal Winter. Diesmal null Grad. Wir treten vor die Tür. Es weht ein heftiger Wind. Und was empfinden wir? Wir haben das Gefühl, dass es bitterkalt ist. Wie wir sehen, ist auf Gefühle kein Verlass. Zugegeben: Das ist keine neue Erkenntnis.

Neu ist aber, was in den meisten Fällen hinter dem heute so beliebten „gefühlt“ steckt. Nichts anderes als Bequemlichkeit, um nicht zu sagen: Faulheit, Sprach- und Schreibfaulheit: Minuten, die uns wie Stunden vorkommen, sind eine „gefühlte“ Ewigkeit. Der Weg, den wir auf unserem Spaziergang zurückgelegt haben, war „gefühlte“ 10 Kilometer lang. „Gefühlte“ Kilometer? Alles, was wir mit ein paar treffenden Worten beschreiben könnten, verkleinern wir auf das Modewort „gefühlt“. Was den gefühlten Kontrollverlust angeht, kann es sich nur um eine Einbildung handeln.

Nicht gefühlt, sondern eingebildet. Das ist des Rätsels Lösung. Wir möchten nicht zugeben, dass wir uns etwas einbilden, dass etwas gar nicht so war oder so ist, wie wir sagen.

Was wir entdecken, sind zwei kleine menschliche Schwächen: Wir flunkern gern ein bisschen, schwindeln ein wenig und versuchen es zu verheimlichen. Dazu werden wir offensichtlich immer sprech- und schreibfauler, machen es uns mit unserer Sprache bequem. Diese zunehmende Wortarmut könnte uns noch die Sprache verschlagen. Aber vielleicht ist die dann eintretende Stille eine Wohltat.