Sonntag, August 11, 2013

Wer ist der Klügste im ganzen Land?

Sind es die Politiker, sind es die Philosophen, die Soziologen, die Politologen, die Journalisten oder bin ich es vielleicht? Auf diese Frage haben mich Markus Feldenkirchen und Christiane Hoffmann gebracht, die beiden SPIEGEL-Redakteure, die für die Ausgabe vom 5. August den Beitrag „Die bequeme Republik“ geschrieben haben.

Am Rande, also nebenbei, frage ich mich, wie zwei Menschen einen Text schreiben können. Aber das ist nicht das Thema.

„Deutschland, wie geht’s?“ Mit dieser Frage beginnt der SPIEGEL eine achtteilige Serie im Vorfeld der Bundestagswahl am 22. September. Den ersten Teil haben Herr Feldenkirchen und Frau Hoffmann bestritten, wie immer sie den Text gemeinsam geschrieben haben mögen.

Wollte ich wirklich gemein sein, könnte ich sagen: Wie kann man so viel Klugscheißerei auf einen Haufen kehren? Die beiden Autoren bemühen den Politiker Müntefering, den Politologen Münkler, den Soziologen Beck und den Philosophen Sloterdijk – wahrscheinlich kluge Köpfe alle miteinander. Als Klugscheißer würde ich sie nicht bezeichnen. Aber … - das will ich erst mal offen lassen.

 Mal sehen, was uns die folgenden Auszüge aus dem SPIEGEL-Artikel sagen:

„Innenpolitisch waren die vier Jahre seit 2009 eine verlorene Zeit. Es gab keine Reform, deren geistiger Horizont weiter als die nächsten Jahre reichte…

…Deutschland ist nicht gerüstet für die Veränderungen, die ihm bevorstehen…

…Die deutschen Sozialsysteme sind gebaut für eine Gesellschaft, die ständig Wachstum generiert und niemals älter wird. Für den Schönwetterbetrieb. Nicht mal jetzt, in Zeiten historisch hoher Beiträge und Einnahmen, gelingt es dem Gesetzgeber, die Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung auf ausreichende Rücklagen für schwierigere Zeiten zu verpflichten…

…Das Gleiche gilt für die Bildungspolitik. Rhetorisch mag sie ein wichtiger Baustein in allen Politikerreden sein. Faktisch ist das Versprechen, jedem Kind in Deutschland die Chance auf die beste Ausbildung zu ermöglichen, zur Farce verkommen... Schuld an der Bildungsmisere ist nicht nur fehlendes Geld, sondern auch der Wirrwarr von Zuständigkeiten von Bund, Ländern und Gemeinden in Deutschland… Deutschland wird mit einer Struktur regiert, bei der sich die einzelnen Ebenen des Staates gegenseitig blockieren. An diese dringend nötige Reform wagt sich indes niemand.“

…Dass Deutschland noch immer eines der kompliziertesten Steuersysteme Europas hat, wirkt im Vergleich eher unbedeutend. Symptomatisch ist es dennoch. Die von FDP und Union im Koalitionsvertrag vereinbarte Arbeitsgruppe zur Reform des Mehrwertsteuersatzes schaffte es in vier Jahren nicht, auch nur ein einziges Mal zu tagen… In dieser Zeit gelang es nicht mal, auf neue Schulden zu verzichten, von einem Abbau der Altschulden in Höhe von 1053 Milliarden Euro ganz zu schweigen – obwohl die Konjunktur gnädig war“  und die Steuereinnahmen so üppig wie nie ausfielen.“

„…’Grundlegende Strukturreformen’ mahnt Angela Merkel gern in Interviews an. ‚Jetzt muss jeder wissen, dass es so nicht weitergehen kann’. Aber sie meint Europa, nicht das Land, das sie regiert. ‚In Europa muss sich noch einiges ändern’, weiß auch Volker Kauder. ‚Wir müssen den Ländern weiter zumuten, ihre Anpassungen durchzuführen’ sagt Wolfgang Schäuble. ‚Das ist für die Bevölkerung hart, aber es gibt keinen Weg daran vorbei’…mutig sind die Berliner Spitzenpolitiker nur dann, wenn es um die Bürger anderer Staaten geht.“

„…So herrscht Stillstand in Deutschland parteiübergreifend. Der SPD sind ihre Agenda-Reformen schon lange peinlich, und Merkel hat aus der Vergangenheit die Lehre gezogen, dass die Bürger keinen Reformstress wünschen. … Die Politik regiert ein Volk, das von ihr nicht mit Zumutungen behelligt werden will… Wer ist schuld: der Bürger oder die Politik?“

(So weit die Bestandsaufnahme.)

„Kaum jemand hat sich so intensiv mit diesen Fragen beschäftigt wie der Politologe  Herfried Münkler, der Soziologe Ulrich Beck und der Philosoph Peter Sloterdijk.“ (Mal sehen, was die Herren zu sagen haben. Wer ist der Klügste im ganzen Land?)

Herr Münkler, der Politologe, stellt Zyklen der Veränderungsbereitschaft“ fest: „Wenn eine Gesellschaft gewisse Anstrengungen hinter sich habe…, dann entwickelt sich fast immer eine ‚Wir haben’s-geschafft- oder Wir-sind-so-gut-Stimmung’.“

(Das hält Herr Münkler für gefährlich. Mag sein, aber das ist ja nur zu verständlich. Niemand kann sich pausenlos anstrengen. Pausen zum Kraftschöpfen müssen sein.)

Genau so wenig neu, genau so wenig hilfreich ist die Bemerkung „Voraussetzung für Reformen sei die allgemeine Wahrnehmung einer Krisensituation. Nur bei starkem Handlungsdruck und gleichzeitigem medialem Rückenwind würden Politiker sich trauen, etwas in Gang zu setzen.“

Und dann folgt, das, was ich einen Offenbarungseid des Wissenschaftlers, des Politologen nenne: „Es müsste eine Gruppe von führenden Politikern geben, die bereit sind, um der Zukunft willen gegenwärtige Risiken einzugehen.“ (So die Forderung Münklers. Forderung? Weitgehend weltfremdes Wunschdenken! So viel Wissenschaftler ist jeder von uns. Münkler hat nichts Neues zu sagen, also: ungenügend, setzen, Münkler!)

Kommen wir zu Herrn Beck, dem Soziologen: „Wir befinden uns in einer Phase dramatischen Wandels“, sagt er. „Wir leben in einer Wirklichkeit, die immer unbegreiflicher wird, gemessen an unseren bisherigen Vorstellungen.“ …“Der Wandel hat nicht nur die Familie erfasst, die Berufsstruktur, die Klassenstruktur, sondern sogar die Wertmaßstäbe, mit denen wir den Wandel beurteilen.“

(Kein Einspruch! Es scheint wirklich so ziemlich alles durcheinander zu sein. Es fällt schwer, sich ein genaues Bild von dem Leben zu machen, das wir leben, leben wollen oder auch leben müssen. Die SPIEGEL-Autoren führen da so einige Beispiele auf, die Herrn Beck aufgefallen sind. Dass die Politik von der Wirklichkeit überrollt wird, kann kaum bestritten werden. Und nicht nur da gebe ich Herr Beck recht. Das Credo der Familienministerin Kristina Schröder „Wir fördern die Wahlfreiheit“ ist der Euphemismus für eine Politik ohne Orientierung. Und wenn Herr Beck hinzufügt, Kanzlerin Merkel verfüge über „Richtlinienkompetenz ohne Richt-linienkompetenz“, gebe ich ihm noch mal recht. Trotzdem: Herr Beck kommt mir vor wie ein Arzt, der seinen Patienten gewissenhaft untersucht, aber nicht weiß, wie er ihn behandeln soll. – Vielleicht sollte ich bescheidener werden, sollte erkennen, dass Wissenschaft eine Tätigkeit ist, die Wissen rafft, ohne zu wissen, was sie damit anfangen soll. Wissenschaft als Ausdruck der Neugierde? Ja, das finde ich in Ordnung. Unter dieser Voraussetzung soll Herr Beck ein „befriedigend“ erhalten.)

Nun endlich der Philosoph, Peter Sloterdijk. Was hat er zu bieten? Philosophische Betrachtungen natürlich. Wenn etwas philosophisch betrachtet wird, dann schwingt da immer das Wörtchen „abgeklärt“ mit. Der Philosoph regt sich nicht auf, er nimmt zur Kenntnis. Er äußert Weisheiten, die in sich ruhen. Aber wo bleibt der Ansporn, die Idee, wo wird Mut gemacht?

„In Deutschland herrsche eine ‚chronische Duldungsstimmung’… ‚Unsere Politiker sind wie die Mitarbeiter der Deutschen Bahn. Wer sich bei ihnen beschwert, bekommt zu hören, dass auch sie nicht mehr wissen.’ Dann spricht Sloterdijk von ‚Lethargokratie’ und sagt, ‚Die Lethargie geht von der Gesellschaft aus. In diesem Punkt hört die Politik ausnahmsweise auf die Stimme des Herrn.’ Die wandlungsscheuen Deutschen wollen eine schläfrige Regierung, meint Herr Sloterdijk. Der kluge Spruch von Joseph de Maistre ‚Jedes Volk hat die Regierung, die er verdient’, fehlt nicht. (Mag sein, aber sind die anderen Völker anders? Ich bin mir da nicht sicher.)

Vom ‚Kartenhauscharakter der Realität’ spricht Sloterdijk und ‚ängstlichem Realismus’ und sagt ‚Wir betrügen uns selbst und lassen uns gern von der Politik betrügen’. Und dann die klugen Ratschläge: „Wahrscheinlich wird es darum gehen, die Knappheit möglichst vernünftig und gerecht zu organisieren. Verantwortliche Politiker müssten den Deutschen genau das sagen, sie müssten sie einstellen auf Kürzungen bei der Rente, im Gesundheitssystem, Steuererhöhungen, mehr Zuwanderung. Wenn die Demokratie mit ihrer Legislaturperiodenfixiertheit diesen Mut nicht aufbringt, wird sie sich selbst zum Verhängnis.“ (Welch eine philosophische Erkenntnis, Herr Sloterdijk! Ich will von einer Schulnote absehen. Einen Philosophiepreis für besondere Erkenntnisse haben Sie nicht gewonnen.)

Nein, ich habe Franz Müntefering nicht vergessen, mit dem der Artikel „Die bequeme Republik“ begann. Für die nächste Legislaturperiode kandidiert er – mit 73 – nicht mehr. Er kommt ganz zum Schluss noch mal zu Wort.

„Wir Politiker sollten weniger Angst vor dem Bürger haben“, sagt er. Wenn man eine Reform gut begründen könne, werde man auch Verständnis für sie bekommen. „Ich glaube, dass wir die Menschen in ihrer Fähigkeit unterschätzen, Zusammenhänge zu begreifen.“ Und eine Idee hat er auch noch anzubieten: die Selbstverpflichtung der Politiker, jedes neue Gesetz mit der Auflage zu versehen, es auf seine nachhaltige Wirkung zu prüfen. Sein Wort in des Volkes Ohr.

Kurz und bündig: Die drei Wissenschaftler haben gedacht. Herr Müntefering hat gemacht.

11. 08. 2013