Donnerstag, Mai 30, 2013

Schulalltag

Am 28. Mai berichtet das Hamburger Abendblatt über Billstedter Gymnasiasten, die seit zwei Jahren mit Tablet-Computern arbeiten und dabei Pionierarbeit leisten. Überschrift: „Schulalltag mit dem iPad“

110 Oberstufenschüler und 25 Lehrer wurden mit iPads ausgerüstet. 70.000 EURO hat die Sache gekostet. An der Fortsetzung haben sich auch Familien der Schüler finanziell beteiligt. „Wir wollen die Schüler fähig machen, eine Gesellschaft mit zu gestalten, die mehr und mehr durch Medien geprägt ist“, so Leiter des Kurt Körber-Gymnasiums. Schulbehörde und das Hamburger Institut für Lehrerbildung (LI) haben sich beteiligt. Das klingt alles sehr fortschrittlich und regt zum Nachdenken an.

Um mal ganz klein und bescheiden anzufangen: 70.000 EURO! Das ist eine Menge Geld. Wie war das, als ich in die Schule ging? Was brauchte ich, als ich eingeschult wurde, Ostern 1938? Eine Schiefertafel mit einem Schwämmchen, einen Griffel, einen Bleistift, vielleicht auch schon Buntstifte, einen Radiergummi?, ein paar Heftchen fürs Schreiben und Rechnen, einen Federhalter und Redisfedern, ein Tintenfass für zu Hause?, eine Fibel und vielleicht noch das eine oder andere Buch?

Das alles war überschaubar, nicht zuletzt was das Geld angeht. Dazu kam ein Ranzen, um alles zur Schule und wieder nach Hause zu tragen. Natürlich kam im Laufe der Schuljahre dies und jenes hinzu, zum Beispiel der teure Diercke-Atlas.

Die Ausstattung in den Schulen war vergleichbar einfach. Vorn in der Klasse gab es eine große schwarze Tafel, auf der mit weißer Kreide geschrieben wurde, ein Utensil, das sich noch Jahrzehnte erhalten hat und wohl immer noch existiert. Heute sind es – wenn auch noch vergleichweise selten - „White-Boards“, computerge-fütterte Bildschirme. Auch die Land- und Weltkarten, die damals auf speziellen „Galgen“ entfaltet wurden, sind auf die „White-Boards“ mit einem Klick zu zaubern.

Um es kurz zu machen: Alles war nicht entfernt so teuer wie heute, aber es war viel einfacher.

Wir lernten Lesen, Schreiben und Rechnen. Wir lernten nicht nur Schreiben, sondern übten auch Schönschrift. Wir lernten das Kleine Einmaleins und das Große Einmaleins. Wir lerneten Kopfrechnen. Wir lernten die Dreisatzrechnung. Später kamen dann Algebra und Geometrie. Wurzelziehen kam ziemlich zum Schluss. Physik, Chemie? Gab es auch. Heute weiß man mehr.

Uns hat es damals schon gereicht. Fremdsprachen? Englisch zuerst oder Russisch (nicht überall), Französisch und dann noch Latein. Zu lernen gab es damals allerhand im Laufe des Schullebens, und alles war ganz handfest. Das zeigte sich nicht zuletzt in den Zensuren „Sehr gut, gut, befriedigend, genügend, ungenügend, mangelhaft“ – von 1 bis 6. Da herrschten klare Verhältnisse. Jeder wusste woran er war.

Wem hat dieses strikte System Schaden zugefügt? Das ist die eine Frage. Und die andere: Welchen Fortschritt hat die Abkehr von dieser Klarheit gebracht? Und kann von Fortschritt die Rede sein, oder nur von Veränderungen?

Ein wesentlicher Fortschritt war der Taschenrechner. Der ersparte das Kopfrech-nen: statt Rechnen nur Tippen. Nachdem sich die Schulen lange gegen die Taschen-rechner im Unterricht gewehrt hatten, gaben sie endlich nach. Das Ergebnis: Wie zuvor in der Wirtschaft ging auch in den Schulen jedes Gefühl für Zahlen verloren.  Was der Taschenrechner zeigte, später der Computer, wurde akzeptiert, so falsch es auch sein mochte.

Damit es nicht zu Missverständnissen kommt: Nichts gegen Taschenrechner, nichts gegen Computer, wenn – was Zahlen angeht – die Voraussetzungen stimmen. Und die sind nun mal das Kleine und das Große Einmaleins. Ich habe es in Konferenzen oft genug erlebt: Wenn es darum ging, ganz schnell mal die Entwicklung von Budgets zu berechnen, flitzten die Finger über die Taschenrechner. Nicht selten waren die spontanen Ergebnisse fragwürdig. Sie wichen von denen, die ich im Kopf überschlägig errechnet hatte, erheblich ab. Die Taschenrechner waren mit ihren Ergebnissen bis die Stellen hinter dem Komma genauer, aber oft genug schlicht falsch. Ich hatte nur Größenordnungen anzubieten. Wenn die nachgerechnet wurden, stellten sie sich als richtig heraus und mussten nur verfeinert werden. Den „Taschenrechnern“ fehlte jedes Gefühl für die Welt der Zahlen. Und deshalb glaubten die „Taschenrechner“ ihren Taschenrechnern.

Diese Beobachtung legt es nahe, dass wir es nicht mit Fortschritt, sondern mit Veränderungen zu tun haben.

Wie konnte es passieren, dass wir Veränderungen mit Fortschritt verwechselt haben?  Wie konnten wir das zulassen?  Für die Beantwortung dieser Frage ist das Beispiel Taschenrechner nicht so gut geeignet wie der Umgang mit unserer Sprache, wie unser Deutschunterricht. Das sollten wir uns mal ansehen.

„Wir“ waren einfach zu feige. Wir waren zu feige, ein paar einfache Spielregeln anzuerkennen. Wir waren nicht bereit, eine gute Leistung gut zu nennen und eine schlechte schlecht. Wir fingen an, die Beurteilungen „sehr gut“ bis „ungenügend“
missverständlich zu umschreiben.

Die Anfänge waren unscheinbar, wurden kaum bemerkt. So wurden auf einmal in den siebziger Jahren die Rechtschreibfehler in einer Deutscharbeit als nicht mehr so wichtig, vielleicht sogar als unbedeutend vermerkt. Nur  Inhalt und Form zählten wirklich, weil es da keine Maßstäbe gibt. Die Beurteilung lag ganz im Ermessen des Lehrers. In der  Rechtschreibung dagegen war alles klar. Auf diese Weise wurde die Bewertung von Leistungen nach klaren Richtlinien infrage gestellt. Darunter leiden wir heute in einem Maße, dass uns Angst und Bange werden muss.

Es geht nicht nur um schlechtes Deutsch, es geht um schlechte Justiz. Und das ist nur ein Beispiel.

So hat die Jura-Professorin Jantina Nord mit einem Sprachtest für Jurastudenten herausgefunden, dass die Ergebnisse teils verheerend waren. Die Studenten scheiterten nicht nur an Fachvokabeln, sondern an grundlegenden Grammatikregeln.
(Quelle: Spiegel online, 27. 05. 2013):

„Jeder zweite Teilnehmer beherrschte die indirekte Rede nicht sicher. Die ist aber wichtig, denn wenn sie als Juristin schildern sollen, was in einem Fall strittig ist, brauchen sie den Konjunktiv. In Klausuren werden gerne mal Subjekt und Prädikat vergessen.“

Weiter: „Beim Begriff ‚verlustig gehen’ konnten einige Studierende das Wort nicht von ‚Verlust’, sondern nur von ‚lustig’ ableiten. Auch wenn sich jemand ‚übervorteilt fühlt’, denken viele Studierende , der Betroffene wäre besonders günstig davon gekommen.“

Auf die Frage, ob die Sprach- und Grammatikschwächen nur ein Thema bei angehenden Juristen seien, antwortet Frau Nord:

„Nein, Kollegen aus allen Fachbereichen beklagen das Problem. Es gibt etwa Architekturstudierende, die hervorragende Entwürfe liefern, aber nicht beschreiben können, was sie gemacht haben. Viele Professoren winken dann ab und sagen, es sei ja nicht ihr Job, den Erstsemesterstudierenden Deutsch beizubringen. Wenn Maschinenbauer kein Mathe können, bekommen sie ein Propädeutikum Mathematik. Das ist beim Sprachthema anders.“

Ich könnte weiter aus dem Spiegel Online-Gespräch mit Frau Nord zitieren. Das würde nur ermüden. Das Wichtigste ist zumindest andeutet.

Ein Internetkommentar zu diesem Gespräch soll hier aber nicht fehlen:

„Man braucht nicht zwingend Jura zu studieren, um zu erkennen, dass die deutsche Sprache – ich bitte, den metaphorischen Ausdruck zu entschuldigen – ‚den Bach runtergeht’. Eine Generation, deren Schriftgebrauch und Lektüre sich auf Akronyme und Emoticons bei täglich hunderten sinnentleerter SMS beschränkt, ist mit einem sprachlich so ‚feinen Skalpell’ wie dem ‚Deutschen’ natürlich überfordert. Tragisch an der ganzen Angelegenheit ist nun nicht, dass unsere Jugend systematisch ‚verblödet’ (daran gewöhnt man sich und die Hoffnung auf Besserung habe ich ohnedies längst aufgegeben), sondern lediglich, dass die Bildungspolitik diesem Trend FOLGT und nicht etwa ENTGEGENsteuert: Dir Rechtschreibreform hat schließlich DAS als verbindlich erklärt, was man vor 15 Jahren noch als Legasthenie behandelt hätte. Das Problem ist hausgemacht… und wie IMMER beginnt der Fisch AM KOPF zu stinken.“

Das alles klingt bitter, verbittert, vielleicht sogar verbiestert.

Nein, nicht alles soll wieder so sein wie früher. Die Schiefertafel, auf der wir mit dem Griffel kritzelten, dass es den Ohren weh tat, die muss wirklich nicht sein. Aber auf die Grundlagen sollten wir uns wieder besinnen:

Hauptsatz und Nebensatz. Hauptwort und Tätigkeitswort. Gegenwartsform, Vergangenheit und Zukunft, und dazwischen lag auch noch was. Das alles sind heute Fremdwörter, weil sie zumindest in den Oberschulen schon vor zig Jahren lateinisch benamst wurden. Egal. Das sind die Grundlagen.  Darauf baut ein verständliches Deutsch auf.

Natürlich müssen wir nicht so sprechen und schreiben wie Goethe und Schiller, wie Thomas Mann und Bert Brecht, wie Böll und Grass, Storm und Fontane, wie Siegfried Lenz oder Martin Walser. Das wäre zu viel verlangt.

Bleiben wir bescheiden. Sprechen und schreiben wir ein einfaches Deutsch – Hauptsatz, Nebensatz und so weiter. Und wenn schon SMS, dann bitte als Fremdsprache hinter Englisch, Französisch, Italienisch, Russisch; auf jeden Fall ganz am Ende.

29. 05. 2013