Samstag, November 28, 2009

Sag mir, wo die Einheit ist, wo ist sie geblieben?

„Sonderzug zu fremden Freunden“ titelt das Hamburger Abendblatt am 24. 11. 2009 auf Seite 3. 920 Dresdner kommen mit einem Sonderzug nach Hamburg. Sie werden umarmt, Freundschaften beginnen, die bis heute voller Leben sind.

So, so ähnlich war es überall damals, 1989 und auch noch 1990. Brüder und Schwestern. Alle fielen sich in die Arme. So lange getrennt. Jetzt endlich wieder zusammen. Tränen, Tränen überall, Tränen des Glücks. Herzklopfen wie verrückt. Wir, wir, wir und nichts sonst. Deutschland einig Vaterland.

Wie schnell haben wir das vergessen.

Wie konnte das passieren? Haben wir etwas falsch gemacht? Und wenn nicht wir, wer sonst? Fangen wir mal bei uns selbst an.

Nicht die Politik hat die Mauer zum Einsturz gebracht, sondern das VOLK. Bürger der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) haben das fertig gebracht, nicht etwa die Bürger der Bundesrepublik Deutschland, und schon gar nicht die Politiker. Mitgeholfen haben sie dann schon, die Politiker, was ja auch wichtig war. Aber die Arbeit, die Arbeit haben die Bürger der DDR getan. Und sie haben alles riskiert. Weiß das heute noch jemand? Manchmal habe ich das Gefühl, das will überhaupt niemand mehr wissen.

Die Politiker haben sich alles unter den Nagel gerissen. Klar, die Bürger konnten aus zwei Deutschlands nicht ein Deutschland machen. Dazu brauchten wir schon die Politiker. Aber dass sie dann so taten, als hätten sie alles gerichtet, das ist schon ein starkes Stück.

Und so ist der 3. Oktober zum Tag der deutschen Einheit geworden und nicht der 9. November, der Tag, an dem die Mauer fiel. Ist die Unterzeichnung eines Vertrages durch Politiker mehr wert als die Tat? Da müssen wir uns nicht wundern, dass der Tag der Einheit nichts anderes ist als ein freier Tag, aber kein Feiertag. Das Zeug dazu hätte der 9. November bestimmt gehabt. Allein die 100.000e, die damals auf die Straße, die Straßen gingen – in Leipzig, in Dresden, in Magdeburg und überall sonst in der DDR – sie hätten in ihrer Erinnerung diesen Tag mit Leben gefüllt.

Aber dann ging es geschäftsmäßig weiter. Wir wickelten die DDR ab, genauer: ihre Reste. Wir – das waren wir Westdeutschen, allen voran Politik und Wirtschaft, aber wir fanden das gut, haben jedenfalls gute Miene zum bösen Spiel gemacht. Schließlich waren wir ja auch die Besseren. Und so wurden die ehemaligen DDR-Bürger zu den Doofen. Das war schlimm genug. Aber es kommt noch schlimmer.

Wir haben uns zum Richter über alle und jeden aufgeschwungen. Wir haben Tun und Lassen einiger Millionen Menschen durchleuchtet und haben erbarmungslos geurteilt. Wir in Westdeutschland waren ja fein heraus. Wir hatte ja seit 1945 keine Diktatur.

Dabei haben wir eins vergessen. Vergessen? Verdrängt! Unsere nationalsozialistsche Vergangenheit. Prof. Pohl von der Christians-Albrecht-Universität stellte in einem Vortrag Anfang 2008 in Kaltenkirchen fest (ich zitiere sinngemäß): „Wenn wir bei der Entnazifizierung so vorgegangen wären wie bei der Aufarbeitung der DDR, wären dreiviertel der Deutschen hinter Gittern gelandet.“ Davon hat außer Prof. Pohl aber niemand gesprochen.

Diese Scheinheiligkeit ist ein Problem, das wir noch nicht gelöst haben. Das ist auch schwierig; denn ohne Frage war die DDR ein Unrechtsstaat, und viele waren an dem Unrecht beteiligt. Das gibt uns Westdeutschen aber nicht das Recht so zu tun, als seien wir die besseren Menschen. Das sind wir nicht.

Wie verwickelt das alles ist, zeigt auch der nostalgische Rückblick vieler Bürger der ehemaligen DDR. Alles war irgendwie so heimelig. Eigentlich ging es einem ja gut. Vor Arbeitslosigkeit brauchte man sich nicht zu fürchten. Mit den Einschränkungen konnte man leben. Reisefreiheit? Da sagt heute mancher: „Die habe ich jetzt auch nicht. Mir fehlt das Geld dazu.“ Aber das alles ist eben nur die halbe Wahrheit, wohl nicht mal die halbe. Wie sonst wäre es zum Ende der DDR gekommen?

Keine Frage: Wir haben Probleme, die sich nicht einfach lösen lassen. Wahrschein-lich können wir sie überhaupt nicht lösen. Sie müssen im Laufe der Zeit sozusagen von selbst aufhören zu existieren. Das ist eine Frage der Generationen. Das sollte uns allerdings nicht dazu verführen, unserer Vergangenheit aus dem Wege zu gehen.

Wir sollten schon genau hinsehen. Wir sollten auch urteilen. Und was Unrecht war, soll auch bestraft werden. Aber wir sollten nicht verurteilen.

Wie hätten wir Westdeutschen uns denn verhalten, wenn der ersten Diktatur gleich eine zweite gefolgt wäre? Die Mecklenburger, Brandenburger, Thüringer, Sachsen und die Anhaltinischen Sachsen haben es erlebt. Darunter leiden wir alle heute noch. Wir alle!