Freitag, August 05, 2011

Wie Amerika seine Ideale verraten hat

Das war im Frühjaur 1830. Da verabschiedeten Senat und Repräsentantenhaus den „Indian Removal Act“. Die östlich des Mississippi lebenden Indianer wurden enteignet und in weit entfernte Reservate deportiert. Tausende kamen dabei ums Leben, allein 4.000 der 16.000 Cherokee. Das ist sehr lange her. Aber nicht lange genug. Dieser Verrat an sich selbst ist so aktuell, als wäre das gestern geschehen.

Die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten vom 4. Juli 1776 sprach davon, dass „alle Menschen gleich geboren, dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten begabt worden sind Leben, Freiheit ujnd das Streben nach Glückseligkeit“.

Mit der Verabschiedung des „Indian Removal Act“ war das vorbei. Mit dem Gesetz, in dem Gier und Hochmut des „White Man“ zum Ausdruck kamen, verloren die Vereinigten Staaten von Amerika ihre Unschuld. Das ist lange her, aber nicht lange genug.

Vollblütige Indianer seien von Natur aus minderwertig. Das Schicksal habe sie zum Aussterben verurteilt, was nicht sonderlich tragisch sei, da ihr Verschwinden aus der menschlichen Familie keinen großen Verlust für die Welt bedeute – so giftete 1826 vor versammeltem Kabinett der Außenminister Henry Clay. Das ist lange her, aber nicht lange genug. Es hört sich an, als sei es erst gestern gesagt worden, von anderen Leuten, in anderen Ländern. (Bis hierher bezieht sich der Text auf den Beitrag „Auf dem Pfad der Tränen,, DIE ZEIT , Ausgabe vom 21. Juli 2011.)

Mit der Deportation eines Teils ihrer Bevölkerung stehen die Amerikaner nicht allein. Die Türkei beispielsweise hat sich mit dem Genozid an den Armeniern nicht anders verhalten. Wie man mit „minderwertigen“ Menschen umgeht, haben wir, die Deutschen, auf furchtbare Weise gezeigt. Damit war erst vor 66 Jahren Schluss. Das ist noch nicht so lange her.

Es ist nicht die Nähe, die uns immer wieder daran erinnert. Es sind die unzähligen Versuche, zu leugnen, zu verdrängen, zu entschuldigen, auch mit dem Hinweis, wir stünden mit unserem Verbrechen gegen die Menschlickeit nicht allein.
Da auf den in Rostock lehrenden Althistoriker Egon Flaig zu kommen, fällt nicht schwer (hier wieder DIE ZEIT; Ausgabe vom 21. Juli). Auf ihn und seinen Beitrag vom 13. Juli in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung bezieht sich der Autor Heinrich August Winkler („Hellas statt Holocaust“).

Winkler schreibt: „Egon Flaig glaubt oder gibt vor zu glauben, dass alle Hinweise auf die Einzigartigkeit der nationalsozialistischen Judenvernichtung einem einzigen großen Zweck dienen: der moralischen Erpressung der Deutschen durch die anderen Völker und durch deutsche Autoren, die auf der Einzigartigkeit der Shoah insistieren…“ Winkler weiter: „Flaig leugnet die Judenvernichtung ja nicht Er findet nur, wie ganz ähnlich vor vielen Jahren der Althistoriker Franz Josef Strauß, dass man die Deutschen nicht dauernd mit Auschwitz behelligen sollte.“

Behelligen? Auschwitz vergessen? Das geht nicht. Auschwitz ist nicht aus der Welt zu schaffen. Auschwitz ist Teil der deutschen Geschichte. Deshalb beschäftigt Auschwitz auch die Generationen nach den Tätern und die kommenden auch. Schuldig müssen sich die Nachfolgegenerationen nicht fühlen. Nein, das nicht. Aber sie müssen akzeptieren, dass Deutsche 6 Millionen Juden umgebracht haben. Das ist ein Teil unserer Geschichte.

Die Wunde Auschwitz ist inzwischen vernarbt. Aber diese Narbe wird für immer bleiben, und oft genug wird sie noch schmerzen.

Wie es den anderen geht mit ihren Verletzungen? „Washington hat sich (erst) 2009 „ – in öffentlich kaum wahrnehmbarer Form – offiziell für das Leid entschuldigt, das die amerikanische Westexpansion im 19. Jahrhundert verursacht hat.“ (Aram Mattioli, DIE ZEIT 21. Juli 2011). Die Wunde ist geschlossen. Die Narbe bleibt. Und die Türkei? So lange sie verdrängt und leugnet, wird die Wunde des Genozids an den Armeniern eine offene Wunde bleiben.